Ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Erlangen als Gedenk- und Lernort
Machbarkeitsstudie bringt historische Verantwortung und Gegenwart zusammen
Ein Gedenkparcours im Außengelände, eine Basisausstellung im Kopfbau der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt, kombiniert mit einem Anbau, der das Schicksal der Ermordeten aufzeigt, und einem aufwändigen pädagogischen Programm: Auf dem Weg zu einem Gedenk- und Lernort an die Opfer der NS-„Euthanasie“ ist ein weiterer, wichtiger Meilenstein erreicht. Die Steuerungsgruppe bestehend aus Expertinnen und Experten der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), der Stadt Erlangen und dem Universitätsklinikum Erlangen hat gemeinsam mit dem Berliner Agenturbüro chezweitz eine umfangreiche Machbarkeitsstudie vorgelegt. Unter dem Motto „Gedenken, Lernen, Leben“ skizziert sie die Möglichkeit eines lebendigen und partizipativen Ortes inklusiver Erinnerungskultur. Dabei nimmt sie das gesamte Gelände in den Blick – und setzt auf Interaktion und die ständige Präsenz des Gedenkens im Alltag. Knapp 45 Millionen Euro könnte das Projekt in der Umsetzung bis Anfang 2030 kosten.
Historische Verantwortung verbinden mit lebendigem Gedenken, medizinische Spitzenforschung mit interdisziplinärer Menschenrechtsforschung, NS-Forschung, Medizinethik und Disability Studies: In der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Erlangen soll nicht nur ein Gedenkort geschaffen werden. Vielmehr sollen auch – vor dem Hintergrund der Medizinverbrechen während des Nationalsozialismus – aktuelle Fragen der Lebenswirklichkeit, der Medizinethik und der jetzigen und zukünftigen Gestaltung der Gesellschaft diskutiert und einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht werden.
Ein Future Lab, bestehend aus Expertinnen und Experten der Steuerungsgruppe, konnten auf Basis einer Ausschreibung im Mai 2024 die Berliner Agentur chezweitz an Bord holen. In einem hybriden Prozess wurde ein Konzept entwickelt, das nun in Form einer Machbarkeitsstudie vorliegt. Sie liefert die Grundlage für die weitere konzeptionelle Ausarbeitung und Planung des Gedenk- und Lernortes in der ehemaligen Anstalt. Wichtig zu wissen: Die Machbarkeitsstudie ist kein finales Konzept, sondern untersucht Möglichkeiten und Bedingungen in baulicher, konzeptioneller und zielgruppenorientierter Hinsicht, um ein solches Projekt zu verwirklichen.
Zur MachbarkeitsstudieAnalyse des baulichen Bestands als Ausgangspunkt
Im Zuge der Bestandsanalyse wurden verschiedene zur Verfügung stehende Pläne und Unterlagen gesichtet, analysiert und um die Erkenntnisse aus zwei Ortsbegehungen im April und Mai 2024 ergänzt. Wie oft bei historischen Bauwerken, die eine wechselhafte Geschichte haben und durch veränderte Nutzungen überformt wurden, sind die Bestandsunterlagen in Teilen lückenhaft und die tatsächliche (historische) Bausubstanz schwer einzusehen. Dennoch konnte anhand der Unterlagen und Untersuchungen ein schlüssiges Bild der vorhandenen Bausubstanz und deren Zustand gezeichnet und so ein gutes Fundament für die weitere Planung geschaffen werden.
Konzeptionelle Grundlagen: inklusive Erinnerungskultur und Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart
Die Einrichtung eines Gedenk- und Lernortes an der ehemaligen Erlanger Heil- und Pflegeanstalt zielt darauf ab, eine inklusive Erinnerungskultur zu fördern, die sich sowohl mit der Vergangenheit als auch mit gegenwärtigen Themen der Medizinethik, der Disability Studies und der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen auseinandersetzt.
Als Leitfragen stehen der Umgang mit Behinderung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die gesellschaftliche Diskussion über Normalität und Abweichung sowie die Problematik des Ableismus – also der Diskriminierung von Menschen aufgrund einer Behinderung – im Mittelpunkt.
Das Konzept sieht einerseits ein kuratorisches und andererseits ein pädagogisches Programm vor, das ein breites Publikum anspricht und den Dialog über die genannten Themen fördert. Inklusive Ansätze sollen Barrieren abbauen und die individuelle Entwicklung sowie soziale Teilhabe aller Menschen ermöglichen. Dazu gehören auch die bauliche Barrierefreiheit sowie eine inklusive Gestaltung von Ausstellungen.
Konzeptionelle Ansätze: Gesamtgelände zum Gedenkort machen
Der Gedenk- und Lernort ist ein umfassender Ort. Er beschränkt sich nicht auf das Gebäude Schwabachanlage 10, sondern greift aus auf den historischen Außenraum und macht diesen sicht- und erlebbar. Für Besucherinnen und Besucher beginnt das Gedenken auf dem Gelände als Spurensuche und Spurensicherung. Hier geraten zunächst die baulichen „Überreste“ in den Blick: Das Gelände wird gleichsam zur archäologischen Stätte, das Gebäude mit seiner vielfachen Überformung und Umnutzung zum Palimpsest, spiegelt also verschiedene Funktionen in seiner Geschichte wider.
Das Außengelände versteht sich als eine Art Gedenkparcours, der eine erste Annäherung an die Heil- und Pflegeanstalt und ihre Geschichte ermöglicht. Dieser Parcours spannt sich inhaltlich wie räumlich zwischen den verbliebenen Gebäuden Schwabachanlage und Maximiliansplatz auf. Beiden Gebäuden werden wichtige programmatische Funktionen zugeschrieben. So ist der Maximiliansplatz historisch Ankunftsort und Ort der Täter/-innen, die Schwabachanlage hingegen ist der Opfer-Ort, dort wo Verbrechen ausgeführt wurden.
Beide Gebäude werden daher, so die konzeptionelle Vision, als notwendige Ankerpunkte für den Gedenkparcours benötigt. Er soll damit vom Maximiliansplatz 2 über ein gestaltetes Gelände mit der symbolhaften Mauer, einem Pfad der Behindertenrechte, einem inklusiven Café und verschiedenen Installationen zum verbliebenen Gebäude Schwabachanlage 10 führen, das zugleich das erste Exponat der Basisausstellung ist. An den Abbruchkanten der gestutzten Seitenflügel zeigt es Leerstellen und steht damit sinnbildlich für den Umgang mit der Geschichte nach 1945.
Dieser Aspekt wird dezidiert aufgegriffen durch einen Anbau, der sich gestalterisch vom Bestandsbau abhebt und Platz für die nötigen Seminarräume bieten wird. Er gibt als eine Art lebendes Archiv den Patientinnen und Patienten eine Stimme, macht alle verfügbaren Informationen über die Ermordeten zugänglich und hält interaktive Archiv-, Media- und Performanceformate bereit. Er wird auch eine Anlaufstelle bieten für Menschen, die zu einem Schicksal aus ihrer Familiengeschichte oder ihrem Bekanntenkreis nachforschen wollen. Dass hier ein Bedarf an Unterstützung besteht, zeigt das zunehmende Forschungsinteresse an diesem Thema auch aus dem privaten Umfeld.
Basisausstellung: Wechselhafte Geschichte des Orts, historischer Kontext und aktuelle Perspektiven
Die Basisausstellung widmet sich der wechselhaften Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt und thematisiert spezifische Ereignisse, die die Geschichte prägten. Es werden auch temporäre Formate, so genannte „Zwischenspiele“, angeboten, um aktuellen Themen und Perspektiven Raum zu geben. Um die Geschichte besser verständlich zu machen, werden gezielt Akteurinnen und Akteure – insbesondere Patentinnen und Patienten, medizinisches Personal und Angehörige – einbezogen.
Darüber hinaus reflektiert die Ausstellung den Kontext der Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt, mit Blick etwa auf Strömungen wie Reformpsychiatrie, Eugenik und gesellschaftliche Umgang mit geistiger Behinderung. Sie nutzt eine Vielzahl an Medien und Präsentationsformen, um eine inklusive und barrierefreie Wissensvermittlung zu ermöglichen. Partizipative Elemente, interaktive Archive und multisensorische Erfahrungen sind dabei zentral, um die Komplexität der Thematik nachhaltig zu vermitteln.
Pädagogisches Programm: Bewusstsein fördern, Begegnung ermöglichen
Die pädagogischen Angebote am neuen Gedenk- und Lernort werden gemeinsam mit einem Inklusionsbeirat und verschiedenen Fokusgruppen entwickelt, wobei Betroffene und Interessenvertreter von Menschen mit Behinderungen sowie Fachpersonal einbezogen werden. Die Ausstellungs- und Programmangebote sind eng aufeinander abgestimmt und sollen auch evaluiert werden.
Insgesamt ist ein zentrales Anliegen die Steigerung des historischen Bewusstseins hinsichtlich der NS-Medizinverbrechen, indem verschiedene interaktive Formate eingesetzt werden. Der Ort soll Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen fördern und bietet dadurch Raum zur Überwindung von Vorurteilen.
Zielgruppen sind diverse Bevölkerungsgruppen, einschließlich Angehöriger von Opfern, Menschen mit Behinderungen, Fachpersonal im Gesundheitswesen, Schüler, Studierende und interessierte Bürger der Stadt und Region. Die Inhalte des Vermittlungsprogramms umfassen ein breites Spektrum, das über die spezifischen NS-Geschehnisse hinausgeht und Themen wie Gedenken, die Entmenschlichung der Gesellschaft vor und nach der NS-Zeit, medizinethische Fragestellungen, Inklusion, Disability Studies und biografische Forschung behandelt.
Alle Lernformate sind so gestaltet, dass sie selbstgesteuertes Lernen und Austausch ermöglichen und verschiedene methodische Ansätze kombinieren, darunter Großgruppenarbeit, Dialogformate und Gedenkrituale.
Veranstaltungsprogramm für immer neue Perspektiven
Für einen lebendigen Gedenkort ist auch ein umfassendes Veranstaltungsprogramm geplant. Dazu gehören klassische und interaktive Führungen über das Gelände und durch das Gebäude, Theateraufführungen und Performances unter dem Titel „Living Stage“, Workshops zu relevanten Themen sowie fachspezifische Seminare für Studierende, Fachpersonal im Gesundheitswesen und soziale Berufe. Im Rahmen der universitären Lehre sollen Vorlesungen dort stattfinden und Sonderausstellungen erarbeitet werden. Nicht zuletzt stehen Veranstaltungen zu Gedenk- und Jahrestagen sowie Bildungsfahrten zu weiteren Orten, die mit der NS-„Euthanasie“ in Verbindung stehen, auf dem Programm.
Stärke des Orts: die Lage inmitten des Lebens
Was für Konzeption und Gestaltung des Gedenkorts die Herausforderung ist, macht gleichzeitig die Stärke des Ortes aus: Das Gedenken wird den Menschen, die sich dort bewegen, immer wieder und auch im Alltag bewusst. Es findet nicht nur beim aktiven Aufsuchen des Gedenkortes oder der Ausstellung statt, sondern ganz „en passant“ beim fußläufigen Durchkreuzen des Campusgeländes. Studierende, Passantinnen und Passanten, Mitarbeitende des Forschungscampus, Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige queren täglich das Gelände.
Offenes Gedenken im Außenraum und im Untergeschoss
Gedenkorte leben von Ritualen. Es wird sich daher, so die Vision, auch in Erlangen ein spezifisches Gedenkritual entwickeln. Eine Aufgabe wird es daher sein, nicht nur die Gestaltung des Ortes im Blick zu haben, sondern mitzudenken, wie Besucherinnen und Besucher auf dem Gelände agieren. Wo können Gedenktafeln platziert werden? Wo kann der Einzelne Raum für persönliches Gedenken finden? Wo können sachliche Informationen bereitgestellt, wo kann gepicknickt, musiziert oder geschwiegen werden kann? All diese Fragen müssen mitgedacht werden.
Stimmen aus Politik und Universität zur Vorstellung der Machbarkeitsstudie am 9. Januar 2025
„Eine lebendige Erinnerungskultur ist nicht nur eine Mahnung aus der Vergangenheit, sondern auch ein unmissverständlicher Appell für Gegenwart und Zukunft. Deshalb sind mir der Erhalt sowie die Schaffung von Erinnerungsorten außerordentlich wichtig. Sie zeigen uns, wie kostbar unser freiheitliches Leben ist. Gerade in den aktuell politisch schwierigen Zeiten mit einer zunehmenden Radikalisierung vereinzelter Gruppierungen ist es mir ein großes persönliches Anliegen, auch dieses Projekt zur Errichtung eines Gedenk- und Lernortes zu unterstützen. So erhalten wir unser geschichtliches Erbe für zukünftige Generationen erinnernd, bildend wie auch mahnend.“
„Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ist sich ihrer historischen Verantwortung bewusst und setzt sich mit ihrer Vergangenheit transparent, interdisziplinär und engagiert auseinander. Die Zusammenarbeit mit der Stadt Erlangen und dem Uniklinikum Erlangen zur Gestaltung eines Gedenk- und Lernortes in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Erlangen sind Ausdruck dieses Engagements. Im Zuge der Umgestaltung des Geländes der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt sind wir, auch gemeinsam mit der Stadtgesellschaft, einen weiten Weg gegangen. Einen Weg, der mit der heutigen Vorstellung der Machbarkeitsstudie ein weiteres wichtiges Etappenziel erreicht.“
„Mit der heutigen Vorstellung der Machbarkeitsstudie gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines Gedenk- und Lernortes. In der Kombination mit dem Rahmenkonzept aus dem Jahr 2020 und dem städtebaulichen Wettbewerb 2023 sind nun wichtige konzeptionelle Grundlagen gelegt. Diese wollen wir mit der Stadtgesellschaft auch in Zukunft aktiv weiterentwickeln. Klar ist: Die Einrichtung des Gedenk- und Lernorts wird ohne die finanzielle Unterstützung von Bund und Land nicht gelingen. Die vom Freistaat zugesagten Mittel für die kommenden Jahre sind dabei ein wichtiges Signal. Der nächste konkrete Schritt ist nun die Gründung einer Stiftung als tragfähige Struktur.“
„Der eingeschlagene Weg, einen Gedenk- und Lernort zu gestalten, ist einzigartig. Die Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten der Universität und der Stadt maßgeblich unterstützt durch das Berliner Büro chezweitz hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Die Identifizierung mit und das Engagement für diesen Ort ist in der Erlanger Stadtgesellschaft sehr hoch. Ich bin dankbar für das in uns gesetzte Vertrauen. Die Machbarkeitsstudie ist ein wichtiger Schritt, das Engagement muss groß bleiben, um die vielen Idee, die nun noch ausgearbeitet werden müssen, dann auch zu verwirklichen.“
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Christoph Safferling
Tel: 0176 62812006
christoph.safferling@fau.de