FAU-Forscher/-innen haben die Krankenmorde an der Hupfla neu aufgearbeitet

Bilder der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt in Erlangen. Hinter dem roten Gebäude steht ein Baukran.
(Bildnachweis: Universitätsarchiv, Foto: Clemens Wachter)

Mit der Kontroverse um den Teilabriss der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Erlangen (Hupfla) und der Diskussion um die Hupfla als Erinnerungsort für die Opfer der NS-„Euthanasie“ hat die Aufarbeitung der Krankenmorde an Gewicht gewonnen. Das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der FAU veröffentlicht nun in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Erlangen einen ersten Band mit dem Titel „NS-‚Euthanasie‘ in Franken“, der am Montag, 18. November, vorgestellt wird.

Den Opfern der NS-„Euthanasie“ eine Stimme geben

Der Herausgeber Prof. Dr. Karl-Heinz Leven und die federführende Autorin Dr. Sabrina Freund berichten im Interview über die Intention, die Zielgruppe und die Besonderheiten dieses Buches.

Sie planen zwei Bände. Worum geht es in dem ersten Band?

Prof. Dr. Karl-Heinz Leven
Prof. Dr. Karl-Heinz Leven, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin der FAU. (Bild: FAU/David Hartfiel)

Karl-Heinz Leven: Der Anspruch dieses Buches ist eine Gesamtdarstellung der Geschehnisse in der Heil- und Pflegeanstalt bis 1945 – eingebettet in den Kontext der Stadtgesellschaft. Die Hupfla befand sich für alle sichtbar mitten in der Stadt. Unser Ziel war es, im Rahmen des von der FAU, der Stadt Erlangen, der Medizinischen Fakultät und dem Universitätsklinikum, der Forschungsstiftung Medizin, den Bezirken Mittel- und Oberfranken, den Siemens-Healthineers sowie weiteren Geldgebern geförderten Projektes die Geschichte dieser Institution differenziert aufzuarbeiten – weder populärwissenschaftlich, noch emotional oder moralisierend. Uns ging es darum, Ereignisse und Kausalketten sowie Einzelschicksale von Opfern darzustellen und historisch einzuordnen.

Wer hat an dem Buch mitgewirkt und an wen richtet es sich?

Sabrina Freund: Unsere Autor/-innen sind Wissenschaftler/-innen von der FAU und vom Stadtarchiv – zumeist Historiker/-innen. Ich selbst bin Linguistin. Wir haben einzelne Kapitel verfasst und an einem umfassenden Glossar mitgeschrieben; dennoch ist es kein Sammelband, sondern eine durchgeplante Monografie, die sich an alle Interessierten wendet – von Gymnasiasten über Studierende bis hin zu Wissenschaftler/-innen und an die Erlanger Bevölkerung. Das Buch ist als Printausgabe verfügbar sowie im Open Access als pdf online und kostenlos abrufbar.

Welche Quellen standen Ihnen zur Verfügung?

Sabrina Freund: Wir haben umfangreiches Archivmaterial durchforstet – unter anderem in Erlangen, in Lichtenau und im Bundesarchiv in Berlin. Erstmals standen uns auch bislang nicht analysierte Patient/-innenakten aus der Psychiatrie zur Verfügung. Wir kennen jetzt alle Namen der „T4“-Opfer, also derjenigen, die bis 1941 in Krankentransporten in die Tötungsanstalten gefahren wurden, da wir die Transportlisten gesichtet haben.

Karl-Heinz Leven: Nach 1941 wurden die Kranken im Zuge einer „dezentralen Euthanasie“, so der Begriff der Forschung für diese Praktik, systematisch einer Hungerkost ausgesetzt, sodass sie oft nach langem Leiden in der Hupfla starben. Dafür gibt es in den Akten verschiedene Indizien. Interessant ist, dass viele der Akten von Opfern der „Aktion T4“ nach der Wende (1990) im Stasi-Archiv aufgetaucht sind. Sie waren auch in Erlangen den Kranken auf dem Weg in die Tötungsanstalten mitgegeben worden. Die Stasi versuchte zu DDR-Zeiten, westdeutsche Ärzte damit zu erpressen.

Wie haben Sie die Quellen für das Buch aufbereitet?

Sabrina Freund: Aus den Akten konnten wir Opfer-Biografien mit vielen individuellen Krankengeschichten erstellen. Ich habe mich auch mit der abwertenden und entmenschlichenden Sprache der Mediziner in den Krankenakten, in denen mitunter Tarnbegriffe für das Unrecht verwendet werden, auseinandergesetzt. Eine Fülle von Grafiken gibt eine Übersicht über Erkenntnisse, etwa, dass der Familienstand „verheiratet“ ein gewisser Schutzfaktor war. Und: Mehr ledige Menschen landeten in Tötungsanstalten oder waren der Hungerkostverordnung unterworfen, als alleinstehende. Tendenziell waren auch mehr Frauen als Männer Opfer der „Aktion T4“.

Karl-Heinz Leven: Wir haben Leserinnen und Leser hoffentlich hilfreiches wissenschaftlich fundiertes Glossar erstellt und darin wichtige Fachbegriffe erläutert, denen wir in den Akten immer wieder begegnet sind. So werden beispielsweise die „Elektrokrampftherapie“ oder Begriffe wie „angeborener Schwachsinn“, die damals Teil der Fachsprache waren, erklärt.

Sie kennen die Namen der Opfer. Beginnt nun die Suche nach den Angehörigen?

Karl-Heinz Leven: Wir suchen nicht aktiv nach Angehörigen, haben jedoch zu Beginn des Projekts (2019) in der Presse und im Internet die Möglichkeit gegeben, dass sich Angehörige bei uns melden. Wir halten alle Informationen für sie bereit. Es liegt an den Betroffenen selbst, ob und wie viel sie wissen wollen. Gern helfen wir bei der Recherche, schauen gemeinsam mit ihnen in die Akten und beantworten Fragen. Seitdem kommt es häufig vor, dass sich Angehörige bei uns melden.

Was wird im zweiten Band thematisiert?

Karl-Heinz Leven: Darin wird es um die Zeit nach 1945 gehen, um die versuchte juristische Aufarbeitung der Krankenmorde und um die Hupfla als Erinnerungsort. Zudem werden wir losgelöst von den individuellen Krankengeschichten die Namen sämtlicher NS-„Euthanasie“-Opfer nennen, als Teil des Gedenkens.

Buchvorstellung „NS-‚Euthanasie‘ in Franken“

Die Buchvorstellung findet am Montag, 18. November, 18.15 Uhr, im Hörsaal Harald zur Hausen, Krankenhausstraße 12, Erlangen statt. Weitere Informationen dazu finden Sie in unserem Kalendereintrag.

Das Buch „NS-‚Euthanasie‘ in Franken“, Band 1, ist abrufbar unter: https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.7788/9783412529697