Kopfsache und Bauchgefühl

Porträt einer Ärztin
(Bild: Melanie Schmitz / Uniklinikum Erlangen:)

Welche Rolle spielt unser Verdauungstrakt bei der Entstehung von Parkinson, Multipler Sklerose oder Alzheimer? Beate Winner ist Sprecherin einer klinischen Forschungsgruppe, die dieser Frage nachgeht.

Er ist rund sechs Meter lang. Er beherbergt riesige Mengen von Bakterien, Viren und Pilzen – insgesamt wohl zehnmal mehr, als es Zellen in unserem Körper gibt. Und möglicherweise hat er einen entscheidenden Einfluss darauf, ob wir im Laufe unseres Lebens an Parkinson, Multipler Sklerose oder einer Demenz erkranken.

Die Rede ist von unserem Darm. Die Medizin hat ihm lange Zeit ausschließlich wegen seiner zentralen Rolle bei der Verdauung Beachtung geschenkt. In den vergangenen Jahren ist er aber aus einem ganz anderen Grund in den Fokus der Forschung geraten: „Es gibt Hinweise darauf, dass viele neurodegenerative Erkrankungen – also Störungen, bei denen Nervenzellen im Gehirn geschädigt werden oder zugrunde gehen – im Darm beginnen“, erklärt Beate Winner. „Erst im zweiten Schritt breiten sie sich von dort ins Gehirn aus.“

Transportwege ins Hirn

Die Professorin für Stammzellmodelle seltener neuraler Erkrankungen ist Sprecherin der Klinischen Forschungsgruppe KFO 5024, die diese Zusammenhänge untersucht. Die wissenschaftliche Koordination liegt bei Prof. Dr. Claudia Günther, die an der FAU die Professur für gastrointestinale Pathophysiologie innehat. Interdisziplinäre Tandems aus neurowissenschaftlich und gastroenterologisch Forschenden wollen in der KFO die Wege aufdröseln, über die der Verdauungstrakt seine Fernwirkung auf die grauen Zellen entfaltet. Es gibt viele Kommunikationskanäle, die dafür infrage kommen. So weiß man, dass manche Bakterien im Darm Entzündungen auslösen können. Die Botenstoffe des Immunsystems, die dabei freigesetzt werden, können über das Blut ins Gehirn gelangen und vermutlich entzündliche Reaktionen in unserem Denkorgan hervorrufen. „Man glaubt heute, dass dieser Prozess zur Entstehung der Multiplen Sklerose beitragen kann“, sagt Winner.

EIne Ärztin analysiert ein Testergebnis.
Beate Winner nutzt einen Western Blot, um Proteine biochemisch zu analysieren. (Bild: FAU/Melanie Schmitz)

Bei Krankheiten wie Parkinson spielt dagegen eventuell ein ganz anderer Kanal eine Rolle: der Vagusnerv. In manchen Hirnregionen – unter anderem denen für die Bewegungssteuerung – finden sich bei Betroffenen Ansammlungen aus einem Protein namens Alpha-Synuklein. Es bildet Verklumpungen in Nervenzellen und schädigt sie. „Interessanterweise findet man dasselbe Protein oft auch im Verdauungstrakt von Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen“, erläutert die FAU-Wissenschaftlerin. „Diese Patientinnen und Patienten haben zugleich ein erhöhtes Risiko für die Parkinson-Krankheit.“

Es ist also gut möglich, dass das Alpha-Synuklein zunächst im Zusammenhang mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung entsteht, von dort ins Gehirn gelangt und die Parkinson-Krankheit auslöst. Die spannende Frage ist, auf welchem Wege das Protein dorthin kommt. Der Vagusnerv, der von unserem Denkorgan zum Verdauungstrakt führt, ist dafür ein Kandidat. Denn Nervenfasern können nicht nur elektrische Impulse übertragen, sie fungieren auch als eine Art Schienenweg, auf dem der Körper Moleküle über weite Distanzen transportieren kann. „Das ist aber nur eine Möglichkeit, die momentan diskutiert wird“, sagt Winner. „Es ist auch möglich, dass das Alpha-Synuklein im Darm in kleine membranumhüllte Beutel verpackt wird, sogenannte Exosomen, und dass diese dann über die Blutbahn ins Gehirn gelangen.“

Die Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Jürgen Winkler (Molekulare Neurologie) sowie Prof. Dr. Stephan Wirtz und Prof. Dr. Raja Atreya (Gastroenterologie) führen zu diesen Fragen momentan eine klinische Studie durch. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhoffen sich unter anderem neue Erkenntnisse über die Rolle, die der „Versand“ des Alpha-Synukleins vom Verdauungstrakt ins Gehirn bei der Krankheitsentstehung spielt. „Wir wollen auch besser verstehen, wie entzündliche Veränderungen im Darm an der Erkrankung der Nervenzellen mitwirken. Unsere Hoffnung ist, dass wir diese neurodegenerative Erkrankung in Zukunft eventuell schon behandeln können, bevor eine Schädigung im Gehirn erfolgt“, betont Winner.

Erforschung von Entzündungen mit Stammzellen

Tatsächlich gibt es bereits heute exzellente Therapieverfahren zur Behandlung chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen wie Morbus Crohn. Allerdings sind sie nicht bei allen Betroffenen gleichermaßen wirksam. Ihr Erfolg lässt sich zudem meist erst nach einiger Zeit beurteilen. Die KFO 5024 untersucht daher auch neue Methoden, mit denen Medizinerinnen und Mediziner früher feststellen können, ob die Entzündung im Darm tatsächlich zurückgeht oder nicht.

Flankiert werden diese Studien an Patientinnen und Patienten durch Labor-Experimente mit menschlichen Zellkulturen. Dazu nutzen die Beteiligten unter anderem aus Stammzellen generierte Zellverbünde. An ihnen lässt sich beispielsweise studieren, wie sich bei einer chronischen Entzündung die Funktion der Darmwand ändert und welche Moleküle dadurch freigesetzt werden. Winner und ihre Arbeitsgruppe können derartige Gewebe beispielsweise aus Hautzellen von Patientinnen und Patienten züchten. „Wir programmieren dieses Ausgangsmaterial sozusagen um und stellen genau das Gewebe her, das wir untersuchen wollen“, sagt sie.

Noch ist über den Einfluss des Verdauungstrakts auf das Gehirn relativ wenig bekannt. Die gebürtige Straubingerin ist sich jedoch sicher, dass sich das in den nächsten Jahren ändern dürfte. Eines lasse sich aus den bisherigen Erkenntnissen bereits ableiten: „Den Darm gesund zu halten und die Darmflora – also die Zusammensetzung der Bakterien und Pilze in ihm – durch eine ballaststoffreiche und probiotische Ernährung positiv zu beeinflussen, ist sicher keine schlechte Idee.“

Beate Winner schaut in die Kamera
(Bild: Melanie Schmitz/Uniklinikum Erlangen)

Prof. Dr. Beate Winner ist Neurologin und Neurowissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Neurodegeneration. Nach der Facharztausbildung für Neurologie und einer Spezialisierung für Neurodegenerative Erkrankungen war sie als Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung im Labor von Fred H. Gage am Salk Institute, La Jolla, USA. Seit 2017 leitet Winner die Stammzellbiologische Abteilung und ist Sprecherin des Zentrums für Seltene Erkrankungen Erlangen.

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Autor: Frank Luerweg


Dieser Artikel ist Teil des FAU Magazins

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