Renaissance der Dinge

Udo Andraschke schaut hinter einer antiken Skulptur hervor.
(Bild: FAU/Giulia Iannicelli)

In einem aufwendigen Digitalisierungsprojekt will Udo Andraschke dazu beitragen, die akademischen Sammlungen in Deutschland wieder zu dem zu machen, was sie einst waren: Anlaufpunkte und Transferzonen für Forschende aus allen Disziplinen.

Das Herz im CT ist über 100 Jahre alt. Das Objekt aus der Anatomischen Sammlung der FAU wird gescannt, anschließend wandelt die Cinematic-Rendering-Software die Schnittbilddaten in fotorealistische 3D-Bilder um. „Wir nutzen moderne Bildgebungsverfahren, um ausgesuchte historische Präparate auf diese Weise zu digitalisieren“, erzählt Udo Andraschke. Dabei geht es nicht nur um neue Einblicke in bis dahin unsichtbare Organ- und Gewebestrukturen, sondern auch um andere Details: Mit welchen Methoden sind die Objekte präpariert worden? Wurden sie schon einmal restauriert? Was lässt sich womöglich über ihre Geschichte ablesen?

Solche Informationen sind es, die Andraschke, seit 2011 Kustos und Kurator der FAU-Sammlungen, Schritt für Schritt mit den Objekten – nicht nur der Anatomie – verknüpfen und online zugänglich machen will. Ziel des aufwendigen und langwierigen Prozesses ist es, die insgesamt eine Million Objekte umfassenden Sammlungen wieder zu dem zu machen, was sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren: Orte wissenschaftlicher Recherche, Räume des Austauschs und Forschungstransfers. „Viele Jahrzehnte dienten die Sammlungen als Werkstätten in den Instituten, mit den Objekten wurde gelehrt und geforscht“, erklärt Andraschke. „Begründet durch neue Medien, aber auch veränderte Fragestellungen, Forschungsinteressen und Methoden verloren die Objekte in einigen Fächern an Bedeutung und wurden oft genug auch räumlich an den Rand gedrängt: in Keller, auf Dachböden oder wo immer Platz war. Einige Bestände wurden teils auch einfach entsorgt oder immerhin an andere Einrichtungen abgegeben.“

Nicht nur digitale Doubletten

2017 startete die FAU gemeinsam mit dem Germanischen Nationalmuseum das Projekt „Objekte im Netz“, für das zunächst sechs Sammlungen ausgewählt wurden: die Graphische, die Medizinische, die Paläontologische, die Schulgeschichtliche, die Ur- und Frühgeschichtliche und die Studiensammlung Musikinstrumente & Medien. „Bevor wir mit der Digitalisierung begonnen haben, fand ein intensiver Dialog mit Expertinnen und Experten statt – aus den Sammlungen selbst, aus den beteiligten Disziplinen und aus den Digital Humanities“, erklärt der Kustos. „Wir wollten gemeinsam klären, welche Daten wir auf welcher technischen Basis erfassen, wie ein virtueller Sammlungsraum konkret aussehen soll und wer ihn nutzt.“ Am Ende entstand eine Plattform, die nicht nur Informationen zu den Objekten selbst lieferte, sondern auch Querverweise beispielsweise zu Fundort, Material, Schöpfer und verwandten Objekten.

Ganz bei null begann das Digitalisierungsvorhaben übrigens nicht: Bereits 1996 wurde die Antikensammlung der Universität im Netz präsentiert, auf einer der ersten Websites der FAU überhaupt. „Das war ein Anfang“, sagt Udo Andraschke, der in Regensburg und Erlangen Literaturwissenschaft, Philosophie und Medizingeschichte studiert hat. „Allerdings war die Online-Präsentation im Grunde nicht mehr als eine digitale Inventarkarte mit Foto und einigen wenigen Angaben zum Objekt.“ Das öffne den Zugang zu den Objekten zwar grundsätzlich, allerdings eher für jene, die bereits wissen, wonach sie suchen. Andraschke: „Dabei geht meist verloren, was akademische Sammlungen ausmacht: die Freude am Entdecken, die Möglichkeit, Dinge zu finden, die man gar nicht gesucht hat, das Potenzial, Forschungshorizonte zu erweitern.“

Eine Frage der Ethik

(Bild: FAU/Giulia Iannicelli)

Bei allem Potenzial, das virtuelle Sammlungen bieten – sie werfen auch Fragen auf, zum Beispiel ethische. Das betrifft insbesondere, aber
nicht ausschließlich, die Präparate der Anatomischen Sammlung. „Wir liefern einerseits faszinierende Bilder von zum Teil außergewöhnlichen Objekten, müssen zugleich aber auch definieren, wer Zugriff darauf hat und was damit geschieht“, erklärt Andraschke. „Dass beispielsweise Fotos von Fehlbildungen im Internet kursieren und in unangemessene Kontexte gestellt werden, liegt nicht in unserem Interesse – zumal dieses Interesse ohnehin immer gut begründet sein sollte.“

Auch jenseits missbräuchlicher Nutzung könnte nach unserem heutigen Verständnis von Recht und Ethik ein anderer Umgang mit sensiblen Sammlungsobjekten angezeigt sein, zu denen gerade auch Humanpräparate zählen: Welche Verantwortung haben wir gegenüber den Menschen, die ihre Organe zur Verfügung gestellt haben? Werden möglicherweise Persönlichkeitsrechte verletzt? „Aspekte des Persönlichkeits- und Urheberrechts betreffen viele Bereiche und Sammlungen“, sagt Andraschke. „Wir müssen zum Beispiel auch klären, ob wir Klassenfotos oder künstlerische Kinderzeichnungen aus der Schulgeschichtlichen Sammlung ohne Weiteres ins Internet stellen dürfen, auch wenn sie schon Jahrzehnte alt sind.“

Kein Selbstzweck

Rund 1.200 akademische Sammlungen gibt es allein in Deutschland, etwa zwanzig Prozent aller Bestände sind bislang digitalisiert worden. Im Verbundprojekt „Sammlungen, Objekte, Datenkompetenzen“, kurz: SODa, wird Udo Andraschke seine Expertise nun auch anderen Hochschulen und Universitäten zur Verfügung stellen. Das Gemeinschaftsvorhaben der FAU, der Humboldt-Universität Berlin, der Interessengemeinschaft für Semantische Datenverarbeitung und des Germanischen Nationalmuseums wird vom Bund mit knapp drei Millionen Euro gefördert, etwa eine Million davon erhält die FAU. „Allein an der FAU konnten wir vier neue Stellen einrichten, die sich zum einen mit der Ethik des digitalen Objekts und mit rechtlichen Fragen befassen, zum anderen mit der Entwicklung der technischen Infrastruktur, der 2D- und 3D-Digitalisierung sowie dem Einsatz von Technologien des maschinellen Lernens“, erklärt Andraschke.

„Die Digitalisierung soll die Möglichkeit bieten, neue Blicke auf die Objekte zu werfen.“

Udo Andraschke

Die Digitalisierung der Objekte ist jedoch nicht der einzige Weg, mit dem der Kustos die Sammlungen aus ihrem Nischendasein holen will. „Ich bin leidenschaftlicher Ausstellungsmacher“, verrät er. Gemeinsam mit dem Schulmuseum Nürnberg konzipiert Andraschke regelmäßig Sonderausstellungen, bei denen Objekte der Schulhistorischen Sammlung der FAU eine zentrale Rolle spielen. 2025 werden einige der teils über 100 Jahre alten Präparate der Anatomischen Sammlung im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt zu sehen sein. Zudem plant Andraschke gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den betreffenden Fächern, die Antikensammlung sowie Teile der Ur- und Frühgeschichtlichen Sammlungen im neuen Hörsaalzentrum der Philosophischen Fakultät auszustellen, um sie auch einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Wir wollen – im Analogen wie im Digitalen – zeigen, dass die Sammlungen auch heute noch von großer Relevanz sind. Die Digitalisierung soll kein Selbstzweck sein – sie soll vielmehr die Möglichkeit bieten, die realen Objekte neu zu befragen, neue Blicke auf sie zu werfen, sie mit anderen Mitteln und Methoden zu untersuchen.“

Für seine Arbeit zur Digitalisierung der FAU-Sammlungen ist Udo Andraschke als „FAU-Innovator 2024“ ausgezeichnet worden.

Autor: Matthias Münch


Dieser Artikel ist Teil des FAU Magazins

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Die zweite Ausgabe unseres FAU Magazins macht dies einmal mehr sichtbar: Es zeigt Forschende, die immer wieder die Grenzen des bislang Machbaren überschreiten. Es stellt Studierende vor, die gemeinsam Höchstleistung für ihre FAU erbringen, erzählt von Lehrenden, die mit Freude und Kreativität ihr Wissen weitergeben. Und es berichtet von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich mit Weitblick und einem Gespür fürs Wesentliche der (Forschungs-)Infrastruktur an der FAU widmen  sowie von Menschen in Schlüsselpositionen, die für ihre Universität da sind und sich für den Forschungsstandort stark machen.

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