Zum Greifen nah

Prof. Del Vecchio und zwei wissenschaftliche Mitarbeitende. einer der Mitarbeiter presst Daumen und Zeigefinger zusammen, während Del Vecchio und die Mitarbeiterin grinsen.
(Bild: FAU/Giulia Iannicelli)

Alessandro Del Vecchio entwickelt Neuroorthesen, die Gelähmten in Zukunft das Greifen ermöglichen sollen. Dabei handelt es sich um ein Sensorgerät, das die Bewegungsabsichten der Person erkennt und mittels eines tragbaren Exoskeletts umsetzt.

An den Tag, an dem Alessandro Del Vecchio ins Trainingslager der italienischen Eliteschule für Kampfpiloten zur Eignungsprüfung nach Rom fahren wollte, kann er sich gut erinnern. Er litt an einer heftigen Infektion im linken Ohr und musste die Prüfung absagen – und seinen Traum aufgeben.

Der im süditalienischen Eboli in der Provinz Salerno geborene Sohn einer Lehrerin und eines Geschäftsmanns ließ sich von diesem Rückschlag nicht entmutigen. Denn das, was den Vater von zwei kleinen Kindern antreibt, ist, „die Welt besser zu machen, als ich sie vorgefunden habe“. Also studierte Del Vecchio Biomechanik und Physiologie in Parma und schloss beide Fächer mit dem Master ab. Nach seiner Dissertation und einem mehrjährigen Postdoc-Aufenthalt in der Abteilung für Bioengineering des Imperial College London wechselte er nach Erlangen.

„Ehrlich gesagt, bin ich sehr froh, dass ich nicht Top-Gun-Pilot geworden bin. Ich habe den schönsten Job der Welt und gehe jeden Tag sehr glücklich zur Arbeit. Vielleicht hat die Mittelohrentzündung meine Karriere gerettet“, sagt der Leiter des Neuromuscular Physiology and Neural Interfacing Laboratory (N-squared Lab) an der FAU.

Sensoren erkennen Bewegungsabsicht

Heute leitet Del Vecchio eine zwölfköpfige Arbeitsgruppe, die sich unter anderem mit neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung beschäftigt: Das Team interessiert sich dafür, wie das Gehirn Muskeln steuert, zum Beispiel bei schnellen Bewegungen über ein Gelenk oder beim Greifen und Manipulieren von Gegenständen. „Wir wollen die zugrunde liegenden physiologischen Mechanismen verstehen, um unsere Erkenntnisse auf neurotechnologische Anwendungen wie Mensch-Maschine-Schnittstellen und Prothesen zu übertragen“, erläutert der 36-Jährige seinen translationalen Ansatz.

Dem Neurowissenschaftler geht es konkret darum, Menschen zu helfen, deren Rückenmark verletzt wurde oder die nach einem Schlaganfall ihre Hand nicht mehr bewegen können: „In unseren Experimenten haben wir festgestellt, dass es bei vielen Menschen noch eine elektrische Restaktivität in den Muskeln gibt. Das ist fantastisch, denn so können wir das Gehirn umgehen und haben trotzdem alle Berechnungen des Rückenmarks integriert.“

Im Projekt NeurOne arbeitet Del Vecchios Team an der Entwicklung einer sogenannten Neuroorthese. Dabei entsteht ein elektrisches Sensorgerät, das auf Muskeln angebracht wird und die Bewegungsabsichten der Person „lesen“ kann. Dazu haben die Forscher extrem dünne Sensoren im 3D-Druckverfahren hergestellt, die die schwachen Aktivitäten der noch funktionierenden motorischen Nervenzellverbände registrieren.

Eine Gehirn-Computer-Schnittstelle decodiert KI-gestützt die aufgenommenen Signale, um daraus die Bewegungsabsicht der Person abzuleiten. „Es ist die Kombination aus flexiblen Sensoren, fortschrittlicher Signalverarbeitung und KI-Algorithmen, die eine genaue Interpretation der Muskelaktivität und damit eine intuitive Steuerung der Neuroorthese ermöglicht“, beschreibt Del Vecchio die in seinem Labor entwickelte Innovation.

 

Ich hoffe, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren alle Menschen mit gelähmten Händen wieder Alltagsgegenstände greifen können.

Prof. Dr. Alessandro Del Vecchio

 

Mann demonstriert eien Neuroorthese.
Alessandro Del Vecchio demonstriert die im Projekt GraspAgain entwickelte Neuroorthese. Sie führt einen 2-Finger-Pinch aus, ohne dass er selbst aktiv greifen muss. Der Gegenstand in seinen Händen ist eine feine Nadelelektrode, die in den Muskel implantiert wird, um elektrische Signale zu messen. (Bild: FAU/Anna Tiessen)

Handschuh hilft beim Zupacken

Wie eine solche Neuroprothese aussehen kann, zeigt die Forschergruppe im Projekt GraspAgain mit einem Prototypen. Es handelt sich um ein tragbares Exoskelett in Form eines Handschuhs. Hier sollen sich die Finger und der Daumen der Hand unabhängig voneinander und mit großer Kraft bewegen. „Wir haben das gerade in unser aktuellen Studie demonstriert. Acht Versuchspersonen, deren Hand vollständig gelähmt war, konnten mit ihren eigenen Nervenimpulsen ihre Hand öffnen und schließen“, berichtet Del Vecchio.

Die Neuroorthese soll den Betroffenen ermöglichen, mehr als 90 Prozent ihrer Alltagsaufgaben selbstständig zu erledigen. „Wir haben in der Neurorehabilitation schon große Fortschritte gemacht. Und ich hoffe, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren alle Menschen mit gelähmten Händen wieder Alltagsgegenstände greifen können,“ erklärt Del Vecchio.

Der Vorteil seiner Innovation: Die Elektroden und Leiterbahnen sind extrem dünn und lassen sich auf Textilien aufbringen oder in Kleidungsstücke einarbeiten. Forschungs- und Entwicklungsbedarf sieht der Forscher allerdings noch bei der Feinmotorik, wenn es darum geht, einzelne Finger einer gelähmten Hand zu bewegen. Vor allem brauche es bessere Hard- und Software, um die schwachen elektrischen Nervensignale zu verarbeiten. „Aber das sind lösbare ingenieurtechnische Probleme. Ich halte es mit dem lateinischen Motto ,sic parvis magna‘: Wir können unsere Ziele erreichen, wenn wir kontinuierlich kleine Probleme lösen. So entstehen durch kleine Dinge große.“

Neuralink und Neuroorthese im Vergleich

Eine Hand hält ein Elektrodengitter.
Diese hochsensiblen Elektrodengitter messen die elektrische Aktivität der Muskeln. (Bild: FAU/Anna Tiessen)

Die Technologie von Neuralink, 2016 mitgegründet von Elon Musk, basiert auf der Implantation von Mikroelektroden in das Gehirn, die die neuronale Aktivität aufzeichnen und stimulieren. Zum System gehört ein Chip, der drahtlos mit externen Geräten kommuniziert. Die Methode zielt auf eine direkte Gehirn-Computer-Kommunikation ab – kurzfristig, um Hirnerkrankungen zu behandeln, langfristig, um die geistigen Fähigkeiten von Menschen zu erweitern. Sie erfordert einen invasiven Eingriff, der potenziell höhere Risiken birgt, darunter Infektionen, Immunreaktionen des Körpers und unbekannte Langzeitfolgen. Außerdem gibt es ethische Bedenken hinsichtlich Gehirnmanipulation und Datenschutz. Zudem ist es sehr schwierig, aus Gehirnprozessen die volle dreidimensionale Dynamik der menschlichen Hand bei natürlichen Bewegungen vorherzusagen.

Spinale, also die Wirbelsäule betreffende Schnittstellen hingegen beinhalten alle Berechnungen des Gehirns und der Schaltkreise des Rückenmarks. Die Aktivität der spinalen Motoneuronen, die die Muskeln kontrollieren, lässt sich direkt in dreidimensionale Bewegungen der Hand umsetzen. Neuroorthesen zielen auf die Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit und nutzen dafür externe Sensoren auf der Haut sowie implantierte elektromyografische Sensoren (als feine Nadelektroden) im Muskel. Die minimalinvasive Methode birgt nur ein geringes Risiko, da sie lediglich die Muskeln anspricht und neuronale Signale verstärkt. Eine mögliche zukünftige Entwicklung könnte ein Chip sein, der direkt in den Muskel implantiert wird und ausliest, was die gelähmte Person tun möchte.

Autorin: Eve Tsakiridou


Dieser Artikel ist Teil des FAU Magazins

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