„Bis wirklich alles geklärt ist“: Medizinstudis untersuchen und befragen Patient/-innen

Portrait Anne Bauer
Anne ist 21 Jahre alt und studiert im sechsten Semester Medizin. Sie nimmt an einem besonderen Projekt teil – einer sogenannten Grand Round. (Bild: FAU/Miriam Weigand)

Medizinstudentin Anne nimmt an einem besonderen Projekt teil: Bei einer sogenannten Grand Round bringen Lehrende Studierende mit Patient/-innen zusammen und die dürfen sie anders als sonst mal so richtig ausfragen und selbst untersuchen – bis wirklich alles geklärt ist. Normalerweise ist das im Studium zeitlich nicht möglich. Die Krankheit, um die es bei der ersten Erlanger Grand Round geht: Ektodermale Dysplasien. Betroffene und deren Angehörigen sind extra nach Erlangen gekommen. Wir haben Anne begleitet und viele Eindrücke von der ersten Grand Round in Erlangen mitgebracht.

Patient/-innen und Angehörige berichten über ihre Erfahrungen mit Ektodermalen Dysplasien:

Audio-Feature: Studentin Anne auf Lehrvisite

Patryk: Wir hatten das Glück, dass wir es während der Schwangerschaft erfahren haben. Im Nachgang denke ich, das war sehr positiv und sehr hilfreich für uns. Für den einen oder anderen ist das vielleicht eine Überforderung, weil man nicht weiß, wie man damit umgeht ­– „Was mache ich und was bedeutet das?“. Das Spannende ist, in Hamburg kennt man diese Krankheit nicht.

Redaktion: Die unbekannte Krankheit, von der Patryk spricht, nennt sich Ektodermale Dysplasie – ein Oberbegriff für eine Gruppe erblicher Gendefekte. Patryks vierjähriger Sohn ist mit der Krankheit auf die Welt gekommen.  Die Gendefekte rufen Fehlbildungen, sogenannte Dysplasien, an den Strukturen hervor, die vom Ektoderm abstammen. Das ist das äußere Keimblatt des Embryos aus dem sich alles entwickelt, was außen ist. Also zum Beispiel die Haut, Schweiß-, Talg- und Duftdrüsen, Haare, Nägel und Zähne. Dass Jonathan mit der Krankheit auf die Welt kommen wird, erfahren seine Eltern bereits während der Schwangerschaft.

Anne: Ihr habt gesagt, dass es eher eine Erleichterung war, das schon vorher zu wissen – noch während der Schwangerschaft. Was genau waren dann die Vorteile oder was hat es euch erleichtert?

Redaktion: Fragen wie diese darf Anne heute unterschiedlichen Patient:innen stellen. Anne ist 21 Jahre alt und studiert im sechsten Semester Medizin an der FAU. Gerade ist sie im 2. Klinischen Semester. Heute nimmt sie an einem besonderen Projekt teil. Lehrende bringen Studierende mit Patienten zusammen und die dürfen sie anders als sonst mal so richtig ausfragen und selbst untersuchen – bis wirklich alles geklärt ist. Normalerweise ist das im Studium nicht möglich. Das Projekt – eine sogenannte Grand Round – soll diese Lücke schließen. Heute ist die Pilotveranstaltung. Worauf Anne sich am meisten freut, erklärt sie so:

Anne: Ich freue mich, dass wir wieder was mit direktem Patientenkontakt zu haben, weil das leider nicht so oft vorkommt oder noch nicht so oft vorgekommen ist in meinem bisherigen Studium. Und ich bin auch sehr gespannt auf die Patienten und auf das Krankheitsbild, weil es ja was sehr seltenes, aber sehr wichtiges und großes ist und da bin ich einfach sehr gespannt, wie das für die Patienten und was sie so berichten und auf die Geschichten.

Redaktion: Mit ihren individuellen Geschichten kommen die Patient:innen also an das, Universitätsklinikum in Erlangen, denn dazu gehört das Zentrum für Ektodermale Dysplasien. Patient/-innen aus ganz Deutschland und angrenzenden EU-Ländern werden hier langfristig betreut. Etwa 100 verschiedene ektodermale Dysplasien gibt es – umso wichtiger ist ein Zentrum, an dem man sich damit auskennt. Das wissen auch die Betroffenen: Jonathans Eltern sind mit ihm extra aus Hamburg gekommen, eine weitere Patientin, Leonie, aus Aalen. Als der Leiter des Zentrums Prof. Schneider sie fragte, ob sie bereit wären, mit Studierenden über sich und ihre Krankheit zu sprechen, zögerten sie nicht.

Prof. Schneider: Jeder von den hier anwesenden Patienten ist bereit Fragen zu beantworten – und wenn jemand meint, das ist zu intim, dann wird er das sagen. Aber eigentlich haben die Patienten ein großes Interesse daran, dass das Krankheitsbild, das sie haben, die Krankheitsgruppe der ektodermalen Dysplasien, dass die auch bekannter wird. Und deswegen fühlen sie sich hier nicht zur Schau gestellt, sondern wollen eigentlich diese Informationen vermitteln.

Redaktion: Prof. Schneider hat die Unterrichtsform der Grand Rounds während eines Teils seines Medizinstudiums in England kennen und schätzen gelernt. Solche Lehrvisiten, bei der Studierende von den Patient/-innen aus erster Hand Informationen über oft seltene Krankheitsbilder bekommen, gibt es in Deutschland bisher nicht. Deshalb möchte Prof. Schneider die Grand Rounds auch an der FAU etablieren.  Bei den Veranstaltungen hat jeder Patient und jede Patientin ihr eigenes Zimmer – an der Tür hängt ein Steckbrief mit den Symptomen der jeweiligen Person. Bei der zwanzigjährigen Leonie sehen die schon wieder ganz anders aus als bei Jonathan.

Leonie: Das Ding ist bei mir, ich hab keinen Speichel. Bei mir sind alle Schleimhäute trocken. Meine Körperflüssigkeit ist eh sehr sehr sehr wenig…. Ich hab ein bisschen Schweißdrüsen, an den Füßen v.a., aber so kann ich eigentlich nicht schwitzen, Körperflüssigkeit: Null.

Redaktion: Leonie hat eine besonders seltene Ektodermale Dysplasie. Die hat nur eine von einer Million Personen. Leonie kann nicht schwitzen und überhitzt deshalb schnell. Außerdem ist ihr Kopf völlig kahl, sie hat keine Zähne und scherenartige Spalten in beiden Füßen. Denn ihre beiden äußeren Mittelfußknochen sind jeweils miteinander verwachsen. Leonie zeigt Anne und den anderen Studierenden heute wie das bei ihr aussieht – unterstützt von einer erfahrenen Ärztin.

Ärztin: Bei deinem Fuß, wenn man den umdreht, dass man das gut erkennen kann.

Leonie: Ja, hier sieht man 3 Zehen. Wenn man das einmal umdreht sieht man hier vier Zehen.

Ärztin: Und hier an der Seite ist auch eine Nagelanlage, ne? Ja doch.

Leonie: Da kennt ihr euch vielleicht mehr aus.

Ärztin: Aber ganz spannend ist, dass du ja meintest, dass das beim Laufen bei dir sehr gut klappt. Da hast du ja keine Probleme

Redaktion: Raum Nummer drei, wieder ganz andere Symptome. Der unterstützende Arzt in diesem Raum macht einen Hauttest bei der zweijährigen Valerie. Mit einem Mikroskop will er herausfinden, ob seine kleine Patientin Schweißdrüsen hat.

Arzt: Achtung, jetzt bitte gut festhalten! (Gerät brummt) Also sie sehen auch auf dem Bild die Haut, sehen Hautleisten und lauter so helle Pünktchen und jedes von diesen hellen Pünktchen ist ein Ausführungsgang von einer Schweißdrüse.

Redaktion: Gute Nachrichten für Valerie: Sie hat Schweißdrüsen. Ohne sie wäre die Gefahr eines lebensbedrohlichen Hitzschlags groß. Denn besonders Kleinkinder können ihre Temperatur noch nicht so gut regulieren. Dafür hat Valerie eine andere Auffälligkeit, die für viele Ektodermalen Dysplasien typisch ist: Ihre wenigen Zähne sind auffallend spitz, erinnern an einen kleinen Vampir.

Valeries Mutter: Oben sind sie schon breit, aber spitz und unten, schau mal nach unten, sind sie halt richtig spitz. Da kommt gerade auch noch einer. Mach nochmal auf, wie die Backenzähne ausschauen. Sie hat schon irgendwie kapiert glaube ich, dass ihre Zähne irgendwie komisch sind, weil sie […] zeigt sie auch sehr ungern.

Redaktion: Im geschützten Raum zwischen den Ärzten und Medizinstudierenden, traut sich Valerie aber trotzdem, die für das Krankheitsbild typischen Zähne zu zeigen. Im hektischen Klinikalltag ist es eher untypisch, dass so lange auf die Patienten eingegangen werden kann. Für Studierende wie Anne ist es deshalb wichtig, sich im Rahmen solcher Projekttage viel Zeit für Gespräche nehmen zu können. Heute war das möglich. Am Ende des Tages schätzt die Studentin vor allem die Offenheit der Patienten und deren Angehöriger.

Anne: Also ich finds sehr beeindruckend, das aus erster Hand zu hören. Aber was mich jetzt überrascht: Ich hatte vorher ein bisschen Angst, dass man irgendwie in ein Fettnäpfchen tritt. Also ich war mir nicht ganz sicher, welche Fragen man stellen kann oder was man lieber nicht fragen sollte. Aber das war gar nicht so. Ich hatte das Gefühl, alle gehen sehr offen damit um. Ich finde es auch super, dass man wirklich so viel Zeit hat. Also bei dem ersten Kind waren wir glaube ich schon über eine halbe Stunde drinnen und konnten wirklich mal so alles fragen und länger darüber berichtet bekommen und das hat man ja normalerweise nie. Also wenn dann ist man mal immer für ein paar Minuten bei jemandem und kann sich da etwas anhören, aber jetzt finde ich haben wir wirklich viele Eindrücke bekommen.

Fragen stellen und untersuchen, bis alles geklärt ist

Anne steht mit etwa zehn anderen Medizinstudierenden in einem Gang der Medizinhörsäle. An den Türen hängen Steckbriefe der Patient/-innen, die sich in dem jeweiligen Raum befinden. Darauf zu sehen: Ein Bild der Person, ihre Krankheitsgeschichte, Symptome und Tipps für Fragen, die Anne und ihre Kommiliton/-innen ihnen stellen können. Mit Fragen wie „Welche Einschränkungen ergeben sich im Alltag aus der Erkrankung?“ und „Welche Lösungen hat die Person für sich gefunden?“ sollen die Studierenden mehr über die Krankheitsformen der Patient/-innen herausfinden. Bei all den Informationen fällt Anne die Entscheidung für einen Raum nicht leicht.

Anne ist 21 Jahre alt und studiert im sechsten Semester Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Gerade ist sie im 2. klinischen Semester. Heute nimmt sie an einem besonderen Projekt teil – einer sogenannten Grand Round. Das Konzept: Lehrende bringen Studierende mit Patient/-innen zusammen und die dürfen sie so lange ausfragen und selbst untersuchen, bis alle ihre Fragen geklärt sind. Normalerweise ist das im Studium nicht möglich. Anne ist besonders auf die Geschichten der Patient/-innen und deren Angehöriger gespannt.

„In Hamburg kennt man diese Krankheit nicht“

Den Anfang macht Patryk. Er lädt Anne und die Kommiliton/-innen ihrer Gruppe in sein Zimmer ein: „Traut euch rein, wir beißen nicht!“ Er und seine Frau Anna nehmen mit ihrem Sohn Jonathan an der Veranstaltung teil. In dem Raum sind Stühle für sie und die Studierenden aufgestellt, außerdem liegt Spielzeug bereit, um den vierjährigen Jonathan zu beschäftigen. Während seine Eltern sich mit den Studierenden unterhalten, wirft der blonde, aufgeweckte Junge einen Ball durch das Zimmer. Von Jonathans Krankheit haben sie bereits während der Schwangerschaft erfahren, erzählt Patryk. „Im Nachgang denke ich, das war sehr sehr hilfreich für uns. Bei uns in Hamburg kennt man diese Krankheit nicht.“

Ektodermale Dysplasien

Die unbekannte Krankheit, von der Patryk spricht, nennt sich Ektodermale Dysplasie. Das ist ein Oberbegriff für eine Gruppe erblicher Gendefekte. Die Gendefekte rufen Fehlbildungen, sogenannte Dysplasien, an den Strukturen hervor, die vom Ektoderm abstammen. Das ist das äußere Keimblatt des Embryos aus dem sich alles entwickelt, was außen ist. Also zum Beispiel die Haut, Schweiß-, Talg- und Duftdrüsen, Haare, Nägel und Zähne.

Über eine halbe Stunde sind Anne und ihre Gruppe bei Jonathan und seiner Familie, fragen sie alles zu Jonathans Diagnose, seinen Symptomen und dem Alltag mit seiner Erkrankung. Am Anfang zögern sie, dann halten sie ihre Fragen nicht mehr zurück. Jonathans Eltern zeigen sich im Gespräch offen und freundlich, beantworten bereitwillig alle Fragen. Anne ist von ihrer Offenheit positiv überrascht: „Ich hatte vorher ein bisschen Angst, ins Fettnäpfchen zu treten. Ich war mir nicht sicher, welche Fragen ich stellen kann oder was ich lieber nicht fragen sollte. Im Gespräch war dann aber alles ganz locker. Ich hatte das Gefühl, alle gehen sehr offen mit der Situation um und freuen sich, die Medizin mit voranzubringen“

Nur eine von einer Millionen Personen hat diese Krankheitsform

Als alle Fragen geklärt sind, wechseln die Studierenden ins Zimmer nebenan zu Leonie. Ihr Steckbrief verrät: Leonie hat eine besonders seltene Ektodermale Dysplasie. Die hat nur eine von einer Million Personen. Leonies Kopf ist völlig kahl, sie hat keine Zähne und scherenartige Spalten in beiden Füßen, da ihre beiden äußeren Mittelfußknochen jeweils miteinander verwachsen sind. Leonie kann nicht schwitzen und überhitzt deshalb schnell. Das erzählt sie auch den Studierenden: „Ich habe keinen Speichel. Bei mir sind alle Schleimhäute trocken. Insgesamt habe ich wenig Körperflüssigkeit. Ich habe ein paar Schweißdrüsen an den Füßen, aber so kann ich eigentlich nicht schwitzen. Körperflüssigkeit: Null.“

Schnell wird klar: Leonies Geschichte ist ganz anders als die von Jonathan. Sie haben zwei verschiedene Ektodermale Dysplasien – insgesamt gibt es etwa 100. Deshalb sind Orte wie das Zentrum für Ektodermale Dysplasien des Uniklinikums Erlangen, an denen man sich damit auskennt, wichtig. Patient/-innen aus ganz Deutschland und angrenzenden EU-Ländern werden hier langfristig betreut. Der Leiter des Zentrums, Prof. Holm Schneider, hat die Unterrichtsform der Grand Rounds während eines Teils seines Medizinstudiums in England kennengelernt. Solche Lehrvisiten, bei denen Studierende von den Patient/-innen aus erster Hand Informationen über oft seltene Krankheitsbilder bekommen, gibt es in Deutschland bisher nicht. Deshalb möchte Prof. Schneider die Grand Rounds auch an der FAU etablieren. Angefangen bei den Ektodermalen Dysplasien.

Untersuchung: Hat Valerie Schweißdrüsen?

Die Studierenden dürfen die Patient/-innen bei den Grand Rounds nicht nur alles Fragen, sondern sie auch untersuchen. So auch in Raum drei. Gemeinsam mit dem unterstützenden Arzt, Dr. Nicolai Peschel, wollen sie durch einen Hauttest herausfinden, ob die zweijährige Patientin Valerie Schweißdrüsen hat. Das macht der Arzt mit einem Mikroskop, mit dem er über Valeries Haut fährt. Die vergrößerte Haut ist auf einem Bildschirm zu sehen. Die Studierenden stehen um die Untersuchung herum, schauen gespannt auf den Bildschirm. „Sie sehen auf dem Bild die Haut, sehen Hautleisten und lauter so helle Pünktchen und jedes von diesen hellen Pünktchen ist ein Ausführungsgang von einer Schweißdrüse“, sagt Peschel.

Gute Nachrichten für Valerie: Sie hat Schweißdrüsen – das wusste ihre Familie bisher nicht. Ohne die Drüsen wäre die Gefahr eines lebensbedrohlichen Hitzschlags groß. Denn besonders Kleinkinder können ihre Temperatur noch nicht so gut regulieren. Dafür hat Valerie eine andere Auffälligkeit, die für viele Ektodermalen Dysplasien typisch ist: Ihre wenigen Zähne sind auffallend spitz, erinnern an einen kleinen Vampir.

Die zeigt sie auch nicht gerne, erklärt ihre Mutter. Im geschützten Raum zwischen den Ärzten und Medizinstudierenden traut sich Valerie aber trotzdem, ihre für das Krankheitsbild typischen Zähne vorzuzeigen. Im hektischen Klinikalltag ist es eher untypisch, dass Studierende sich so lange mit einzelnen Patient/-innen auseinandersetzen und ihre Geschichte kennenlernen können. Für Studierende wie Anne sind solche Projekttage wie an diesem Tag deshalb besonders wichtig. Sie freut sich, ein Teil der ersten Grand Round in Erlangen – einer der ersten überhaupt in Deutschland – zu sein: „Ich habe heute viel gelernt und viele Eindrücke mitgenommen, die mich auf meinem Weg zur Ärztin begleiten werden.“