„Bis wirklich alles geklärt ist“: Medizinstudis untersuchen und befragen Patient/-innen

Medizinstudentin Anne nimmt an einem besonderen Projekt teil: Bei einer sogenannten Grand Round bringen Lehrende Studierende mit Patient/-innen zusammen und die dürfen sie anders als sonst mal so richtig ausfragen und selbst untersuchen – bis wirklich alles geklärt ist. Normalerweise ist das im Studium zeitlich nicht möglich. Die Krankheit, um die es bei der ersten Erlanger Grand Round geht: Ektodermale Dysplasien. Betroffene und deren Angehörigen sind extra nach Erlangen gekommen. Wir haben Anne begleitet und viele Eindrücke von der ersten Grand Round in Erlangen mitgebracht.
Patient/-innen und Angehörige berichten über ihre Erfahrungen mit Ektodermalen Dysplasien:
Audio-Feature: Studentin Anne auf Lehrvisite
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Fragen stellen und untersuchen, bis alles geklärt ist
Anne steht mit etwa zehn anderen Medizinstudierenden in einem Gang der Medizinhörsäle. An den Türen hängen Steckbriefe der Patient/-innen, die sich in dem jeweiligen Raum befinden. Darauf zu sehen: Ein Bild der Person, ihre Krankheitsgeschichte, Symptome und Tipps für Fragen, die Anne und ihre Kommiliton/-innen ihnen stellen können. Mit Fragen wie „Welche Einschränkungen ergeben sich im Alltag aus der Erkrankung?“ und „Welche Lösungen hat die Person für sich gefunden?“ sollen die Studierenden mehr über die Krankheitsformen der Patient/-innen herausfinden. Bei all den Informationen fällt Anne die Entscheidung für einen Raum nicht leicht.
Anne ist 21 Jahre alt und studiert im sechsten Semester Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Gerade ist sie im 2. klinischen Semester. Heute nimmt sie an einem besonderen Projekt teil – einer sogenannten Grand Round. Das Konzept: Lehrende bringen Studierende mit Patient/-innen zusammen und die dürfen sie so lange ausfragen und selbst untersuchen, bis alle ihre Fragen geklärt sind. Normalerweise ist das im Studium nicht möglich. Anne ist besonders auf die Geschichten der Patient/-innen und deren Angehöriger gespannt.
„In Hamburg kennt man diese Krankheit nicht“
Den Anfang macht Patryk. Er lädt Anne und die Kommiliton/-innen ihrer Gruppe in sein Zimmer ein: „Traut euch rein, wir beißen nicht!“ Er und seine Frau Anna nehmen mit ihrem Sohn Jonathan an der Veranstaltung teil. In dem Raum sind Stühle für sie und die Studierenden aufgestellt, außerdem liegt Spielzeug bereit, um den vierjährigen Jonathan zu beschäftigen. Während seine Eltern sich mit den Studierenden unterhalten, wirft der blonde, aufgeweckte Junge einen Ball durch das Zimmer. Von Jonathans Krankheit haben sie bereits während der Schwangerschaft erfahren, erzählt Patryk. „Im Nachgang denke ich, das war sehr sehr hilfreich für uns. Bei uns in Hamburg kennt man diese Krankheit nicht.“
Ektodermale Dysplasien
Die unbekannte Krankheit, von der Patryk spricht, nennt sich Ektodermale Dysplasie. Das ist ein Oberbegriff für eine Gruppe erblicher Gendefekte. Die Gendefekte rufen Fehlbildungen, sogenannte Dysplasien, an den Strukturen hervor, die vom Ektoderm abstammen. Das ist das äußere Keimblatt des Embryos aus dem sich alles entwickelt, was außen ist. Also zum Beispiel die Haut, Schweiß-, Talg- und Duftdrüsen, Haare, Nägel und Zähne.
Über eine halbe Stunde sind Anne und ihre Gruppe bei Jonathan und seiner Familie, fragen sie alles zu Jonathans Diagnose, seinen Symptomen und dem Alltag mit seiner Erkrankung. Am Anfang zögern sie, dann halten sie ihre Fragen nicht mehr zurück. Jonathans Eltern zeigen sich im Gespräch offen und freundlich, beantworten bereitwillig alle Fragen. Anne ist von ihrer Offenheit positiv überrascht: „Ich hatte vorher ein bisschen Angst, ins Fettnäpfchen zu treten. Ich war mir nicht sicher, welche Fragen ich stellen kann oder was ich lieber nicht fragen sollte. Im Gespräch war dann aber alles ganz locker. Ich hatte das Gefühl, alle gehen sehr offen mit der Situation um und freuen sich, die Medizin mit voranzubringen“
Nur eine von einer Millionen Personen hat diese Krankheitsform
Als alle Fragen geklärt sind, wechseln die Studierenden ins Zimmer nebenan zu Leonie. Ihr Steckbrief verrät: Leonie hat eine besonders seltene Ektodermale Dysplasie. Die hat nur eine von einer Million Personen. Leonies Kopf ist völlig kahl, sie hat keine Zähne und scherenartige Spalten in beiden Füßen, da ihre beiden äußeren Mittelfußknochen jeweils miteinander verwachsen sind. Leonie kann nicht schwitzen und überhitzt deshalb schnell. Das erzählt sie auch den Studierenden: „Ich habe keinen Speichel. Bei mir sind alle Schleimhäute trocken. Insgesamt habe ich wenig Körperflüssigkeit. Ich habe ein paar Schweißdrüsen an den Füßen, aber so kann ich eigentlich nicht schwitzen. Körperflüssigkeit: Null.“
Schnell wird klar: Leonies Geschichte ist ganz anders als die von Jonathan. Sie haben zwei verschiedene Ektodermale Dysplasien – insgesamt gibt es etwa 100. Deshalb sind Orte wie das Zentrum für Ektodermale Dysplasien des Uniklinikums Erlangen, an denen man sich damit auskennt, wichtig. Patient/-innen aus ganz Deutschland und angrenzenden EU-Ländern werden hier langfristig betreut. Der Leiter des Zentrums, Prof. Holm Schneider, hat die Unterrichtsform der Grand Rounds während eines Teils seines Medizinstudiums in England kennengelernt. Solche Lehrvisiten, bei denen Studierende von den Patient/-innen aus erster Hand Informationen über oft seltene Krankheitsbilder bekommen, gibt es in Deutschland bisher nicht. Deshalb möchte Prof. Schneider die Grand Rounds auch an der FAU etablieren. Angefangen bei den Ektodermalen Dysplasien.
Untersuchung: Hat Valerie Schweißdrüsen?
Die Studierenden dürfen die Patient/-innen bei den Grand Rounds nicht nur alles Fragen, sondern sie auch untersuchen. So auch in Raum drei. Gemeinsam mit dem unterstützenden Arzt, Dr. Nicolai Peschel, wollen sie durch einen Hauttest herausfinden, ob die zweijährige Patientin Valerie Schweißdrüsen hat. Das macht der Arzt mit einem Mikroskop, mit dem er über Valeries Haut fährt. Die vergrößerte Haut ist auf einem Bildschirm zu sehen. Die Studierenden stehen um die Untersuchung herum, schauen gespannt auf den Bildschirm. „Sie sehen auf dem Bild die Haut, sehen Hautleisten und lauter so helle Pünktchen und jedes von diesen hellen Pünktchen ist ein Ausführungsgang von einer Schweißdrüse“, sagt Peschel.
Gute Nachrichten für Valerie: Sie hat Schweißdrüsen – das wusste ihre Familie bisher nicht. Ohne die Drüsen wäre die Gefahr eines lebensbedrohlichen Hitzschlags groß. Denn besonders Kleinkinder können ihre Temperatur noch nicht so gut regulieren. Dafür hat Valerie eine andere Auffälligkeit, die für viele Ektodermalen Dysplasien typisch ist: Ihre wenigen Zähne sind auffallend spitz, erinnern an einen kleinen Vampir.
Die zeigt sie auch nicht gerne, erklärt ihre Mutter. Im geschützten Raum zwischen den Ärzten und Medizinstudierenden traut sich Valerie aber trotzdem, ihre für das Krankheitsbild typischen Zähne vorzuzeigen. Im hektischen Klinikalltag ist es eher untypisch, dass Studierende sich so lange mit einzelnen Patient/-innen auseinandersetzen und ihre Geschichte kennenlernen können. Für Studierende wie Anne sind solche Projekttage wie an diesem Tag deshalb besonders wichtig. Sie freut sich, ein Teil der ersten Grand Round in Erlangen – einer der ersten überhaupt in Deutschland – zu sein: „Ich habe heute viel gelernt und viele Eindrücke mitgenommen, die mich auf meinem Weg zur Ärztin begleiten werden.“