„Antisemitismus ist ein Dauerproblem“
Warum die Beschäftigung mit antisemitischem Hass nötiger ist denn je – und warum Empathie nicht exklusiv sein muss. Ein Gespräch mit Professor Heiner Bielefeldt, Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Herr Prof. Bielefeldt, nach dem Massaker der Hamas im Oktober 2023 sind antisemitische Übergriffe an der Tagesordnung. Gleichzeitig wagen viele Menschen nicht, Kritik an der Kriegsführung Israels zu üben, weil sie eben gerade nicht des Antisemitismus verdächtigt werden wollen. Wie können wir als Gesellschaft damit umgehen?
Empathie muss nicht exklusiv sein: Mitgefühl für die jüdischen Ermordeten des 7. Oktober und ihre Angehörigen kann sich durchaus verbinden mit Empathie für die Zehntausenden palästinensischen Opfer exzessiver Gewalt im Gazastreifen. Ebenso wichtig ist, dass die gebotene politische Aufmerksamkeit für den grassierenden Antisemitismus auch mit der Thematisierung von Muslimfeindlichkeit einhergehen sollte, die hierzulande jüngst ebenfalls angestiegen ist. Aber trotz des Blicks auf das Leid aller darf man wichtige Spezifika des Antisemitismus nicht aus dem Blick verlieren, zu denen vor allem Verschwörungsprojektionen gehören.
Was meinen Sie damit?
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist der Antisemitismus vor allem eine Projektionsfläche für das Unbehagen an der Moderne: Die Verunsicherungen und Verwerfungen in der modernen Gesellschaft werden scheinbar erklärbar. „Der Jude“ wird als derjenige vorgeführt, der angeblich als Strippenzieher verborgen hinter allem steckt, was an der Moderne beunruhigt: Börsenkrach, expandierender Industriekapitalismus, gewerkschaftliche Streiks, moderner Parteienpluralismus, sozialistische Programmatiken, der Rückgang kirchlicher Frömmigkeit, die Meinungsmacht der Massenmedien, urbaner Lebensstil, unpopuläre avantgardistische Kunst, grenzüberschreitende Migrationsbewegungen, Globalisierung. Antisemitismus ist weit mehr als die Diskriminierung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe: Menschen versuchen auf diese Weise, abstrakten Mächten, denen sie sich ausgeliefert fühlen, scheinbar ein konkretes Gesicht zu geben, das aber in Wahrheit eine hässliche Phantasiefratze ist.
Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Demokratie?
Die Absage an Antisemitismus verlangt ein vertieftes Nachdenken über die Meinungsfreiheit und ihre Schranken. Es gibt gute Gründe dafür einzutreten, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit sehr weit gesteckt sind: Nur in einer Gesellschaft, in der Menschen die Chance haben, ihre Anliegen – gerade auch strittige Anliegen – öffentlich vorzubringen, kann eine Kultur der Freiheit gedeihen. Mit Zuspitzungen und Provokationen auch der unangenehmen Art muss eine demokratische Diskurskultur umgehen können. Rassistische beziehungsweise antisemitische Hassrede ist aber etwas anderes. Sie zielt darauf ab, Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder mutmaßlichen Gruppenzugehörigkeit aus der menschlichen Gemeinschaft gleichsam zu exkommunizieren. Sie verweigert ihnen das Recht auf Gehör. Menschen mundtot zu machen zerstört in letzter Konsequenz den Diskurs und unterminiert damit die Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie. Eine klare Absage an Antisemitismus steht daher im Dienst der Demokratie, der Freiheitsrechte und nicht zuletzt auch der Meinungsfreiheit selbst.
Ringvorlesung „Antisemitismus“ – mit der Stadtgesellschaft für die Stadtgesellschaft
Gemeinsam mit der Volkshochschule Erlangen und weiteren Partnern haben das Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg der FAU sowie der Studiengang „Ethik der Textkulturen“ – vertreten durch Prof. Antje Kley und Dr. Eva Forrester – eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen, die alle Bürgerinnen und Bürger einlädt, sich mit Antisemitismus in unserer heutigen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Jeweils dienstags um 18.15 Uhr im Senatssaal des Kollegienhauses in Erlangen.
Dieser Text erschien zuerst in den Erlanger Nachrichten.