Einem Phantom auf der Spur

Studie belegt positiven Einfluss von Entspannungsübungen auf Tinnitus – Teilnehmende für weitere Studie gesucht

Nur eine einzige Person kann das Geräusch hören – alle anderen hören nichts: Das macht die Behandlung eines Tinnitus so schwierig. Je nach Schweregrad beeinträchtigt das ständige Klingeln, Rauschen oder Pfeifen im Ohr das Privat- und Berufsleben des betroffenen Menschen teils erheblich. Eine zuverlässig funktionierende Therapie gibt es bisher allerdings nicht. Denn obwohl sich die Wissenschaft darüber einig ist, dass das Phantomgeräusch seinen Ursprung im Gehirn hat, ist die genaue Entstehung nach wie vor unklar. Eine Forschungsgruppe der Neurochirurgischen Klinik (Direktor: Prof. Dr. Oliver Schnell) des Uniklinikums Erlangen untersucht im Rahmen von Studien, welche Prozesse im Gehirn dafür verantwortlich sind, dass die Phantomgeräusche überhaupt wahrgenommen werden, und wie sich aus einem akuten Leiden eine chronische Belastung entwickelt. Erste Teilergebnisse, die in Form eines Preprints veröffentlicht wurden, belegen einen positiven Effekt von Entspannungsübungen für die Kiefermuskulatur. Diese Erkenntnisse möchte das Team unter Leitung von Dr. Nadia Müller-Voggel in einer weiteren Studie vertiefen, für die aktuell noch Probandinnen und Probanden gesucht werden.

„In den vergangenen Jahren ist vermehrt das sensorisch-motorische System in den Fokus gerückt“, erläutert Dr. Müller-Voggel. Denn viele Patientinnen und Patienten, die sich in einer kognitiv-behavioralen Therapie befanden, berichteten, dass Bewegungen mit Kiefer, Kopf oder Nacken oder auch Entspannungsübungen des Kiefer-, Kopf- oder Nackenbereichs die Wahrnehmung ihres Tinnitus beeinflussten. „Welche Auswirkungen dies aber auf die mit Tinnitus zusammenhängende neuronale Aktivität im Gehirn hat, ist weitgehend ungeklärt“, sagt Nadia Müller-Voggel. „In unserer Forschungsgruppe haben wir daher systematisch untersucht, ob Übungen mit dem Kiefer tatsächlich Auswirkungen auf die Tinnituswahrnehmung haben und ob und wie parallel dazu die Hirnaktivität beeinflusst wird.“ Dazu führten Probandinnen und Probanden mit chronischem Tinnitus jeweils eine Minute lang entspannende (z. B. Zunge kreisen lassen) sowie anspannende (z. B. Zähne fest zusammenbeißen) Übungen durch. Im Anschluss wurde drei Minuten lang die Hirnaktivität gemessen: mithilfe der Magnetenzephalografie (MEG), die magnetische Signale aufzeichnen kann, die durch die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn entstehen. Außerdem machten die Teilnehmenden Angaben zur Lautstärke des Tinnitus und zum Grad ihres damit verbundenen Unwohlseins.

Effekte von Entspannungsübungen im Gehirn messbar

Dr. Müller-Voggel fasst zusammen: „Mit unseren Ergebnissen konnten wir zeigen, dass die Probandinnen und Probanden ihren Tinnitus tatsächlich bis zu drei Minuten nach den entspannenden Übungen als signifikant leiser und angenehmer einschätzten als nach den anspannenden Übungen.“ Das Team bemerkte außerdem, dass die Entspannungsübungen auch im Gehirn messbare Veränderungen auslösten. So befand sich die Region, die Wahrnehmungen in der Kopf- und Nackenregion verarbeitet, in einem gehemmten Zustand. Diese Hemmung war aber nicht nur lokal zu beobachten, sondern wurde zu einem anderen Bereich, der für Hörwahrnehmungen zuständig ist, weitergeleitet. „In diesem auditorischen Kortex, in dem höchstwahrscheinlich die eigentliche Wahrnehmung des Tinnitus verarbeitet wird, konnten wir dann auch tatsächlich eine Reduktion neuronaler Aktivität beobachten“, berichtet Nadia Müller-Voggel. Die kurzfristige Verbesserung des Tinnitus wurde also vom hemmenden Einfluss der Kopf- und Nackenregion auf die Hörregion ausgelöst, wo sich lokal Tinnitus-assoziierte Hirnaktivität reduzierte. Die Ergebnisse des Erlanger Teams bestätigen also, dass Tinnitus systematisch durch Entspannungsübungen kurzfristig verändert werden kann und belegen erstmals die Verbindung zum Gehirn.

Ziele: neue Therapien entwickeln und Chronifizierung verhindern

Die Arbeit der Erlanger Forschungsgruppe trägt wesentlich dazu bei, die Entstehung und Beeinflussbarkeit von chronischem Tinnitus besser zu verstehen. Ziel ist die Entwicklung neuer Therapien, mit denen sich die Ohrgeräusche dauerhaft reduzieren lassen. „Um herauszufinden, inwiefern Tinnitus schon im Anfangsstadium beeinflussbar ist, wollen wir im nächsten Schritt untersuchen, welchen Einfluss dieselben Übungen in einem akuten, weniger verfestigten Stadium haben“, erklärt Dr. Müller-Voggel. „Entsprechende Erkenntnisse würden uns dabei helfen, neuronale Prozesse aufzudecken, die einer Chronifizierung von Tinnitus im akuten Stadium entgegenwirken.“ Für diese Studie sucht die Forschungsgruppe noch Probandinnen und Probanden.

Probandinnen und Probanden gesucht

Teilnehmen können Personen mit einem fast dauernd zu hörenden Tinnitus, der noch nicht länger als acht Wochen besteht, sowie Menschen, die in Stresssituationen oder bei Lärmbelastung regelmäßig einen vorübergehenden Tinnitus haben. Die Studienteilnahme umfasst ein bis zwei Termine (Dauer: je drei Stunden) im MEG-Labor des Uniklinikums Erlangen in den Kopfkliniken, Schwabachanlage 6. Die Probandinnen und Probanden erhalten eine Fahrtkostenerstattung und eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 15 Euro pro Stunde.

Link zum Preprint:
https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2023.06.28.546718v1

Kontaktdaten für die Studienteilnahme

Das Telefon ist montags und dienstags von 18.00 bis 20.00 Uhr und von Mittwoch bis Samstag von 15.00 bis 17.00 Uhr besetzt.
Tel.: 09131/85-39222
megstudien.erlangen@gmail.com

 

Weitere Informationen:

Dr. Nadia Müller-Voggel
Neurochirurgische Klinik des Uniklinikums Erlangen
Tel.: 09131/85-36989
nadia.mueller-voggel@uk-erlangen.de