Von der Höhle zum virtuellen Raum
Wie die Auseinandersetzung mit Bild und Raum Herausforderungen unserer Zeit lösen soll
Ein Interview mit Prof. Dr. Christina Strunck vom Lehrstuhl für Kunstgeschichte der FAU.
Sie widmen beim Deutschen Kongress für Kunstgeschichte, der nächste Woche in Erlangen stattfindet, einen ganzen Programmpunkt dem Thema Höhlen. Das wirkt zunächst vielleicht ungewöhnlich. Was ist an Höhlen aus kunstgeschichtlicher Perspektive so spannend?
Höhlen haben die Menschen seit jeher fasziniert – und zwar durch alle Kulturen und Epochen. Höhlen aktivieren Urängste – etwa vor dem Dunklen, dem Geheimnisvollen – ebenso wie Ursehnsüchte, zum Beispiel nach Geborgenheit wie im Mutterleib. In zahlreichen Kulturen waren und sind Höhlen traditionelle Kultorte. Die Höhle kann auch als Mikrokosmos oder Ideenlabor verstanden werden, in dem Menschen ihr Verhältnis zu ihrer materiellen und spirituellen Umwelt modellhaft gestalten, ihre Ängste bannen, ihre Sehnsüchte ausleben. Deswegen stehen Höhlenräume im Zentrum meiner Sektion. Wir nehmen künstlerisch gestaltete Höhlen aus verschiedenen Kulturen vergleichend in den Blick, vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Wie wirken denn Höhlen in der Kunst?
Während Bilder uns zweidimensional entgegentreten, beziehen uns Räume mit allen Sinnen ein. Daher sind immersive Ausstellungen zur Zeit extrem populär, etwa „van Gogh alive“, „Tutanchamun immersiv“ oder „Viva Frida Kahlo – Immersive Experience“. Künstlerisch gestaltete Höhlen sind im Grunde eine Vorform solcher Ausstellungserlebnisse. Die Außenwelt wird bewusst ausgeschlossen und der Raum in ein besonderes Licht getaucht, um das Erlebnis zu intensivieren.
Erinnert ein bisschen an die künstliche Tropfsteinhöhle, die König Ludwig II. im Park von Schloss Linderhof hat bauen lassen…
Genau. Aber der Trend ist viel älter: Rauminszenierungen, die uns mit allen Sinnen ansprechen, erlebten bereits in der Epoche des Barock und Rokoko eine spektakuläre Blütezeit – man denke etwa an Vierzehnheiligen oder Kloster Weltenburg. Die Sektion des Gastlandes Tschechien betrachtet daher barocke Deckenmalereien als „virtuelle Welten“ der Frühen Neuzeit. In unserem Konzert „Erlebnisräume in der Musik“ in der Altstädter Kirche können interessierte Erlangerinnen und Erlanger quasi „komponierte Höhlen“ aus der Epoche des Barock hören.
Bilder sind nur in ihrem räumlichen Zusammenhang voll zu verstehen, lautet eine Ihrer Thesen. Warum?
Die Art, wie ein Raum strukturiert ist, beeinflusst unser Bildverständnis. Als ein ganz einfaches Beispiel kann der Innenraum einer katholischen Kirche dienen, die einen Hauptaltar und mehrere Nebenaltäre besitzt. Die Nebenaltäre sind sowohl durch ihre Position als auch durch ihre Gestaltung dem Hauptaltar untergeordnet. Kirchgänger erfassen dieses Muster und verstehen aufgrund der Strukturierung des Raumes, welches Bild als das Wichtigste zu gelten hat, nämlich das Hauptaltarbild. Völlig anders ist aber die Situation, wenn dasselbe Hauptaltarbild stattdessen in einem Museum hängt. Dort können durch die Kombination mit anderen Gemälden ganz neue visuelle Hierarchien hergestellt werden. Zudem ändert sich die Blickweise auf das Bild, weil im Museum nicht die religiöse Bedeutung, sondern die ästhetische Qualität im Vordergrund steht. Da der Raum also unsere Wahrnehmung beeinflusst, greifen reine Bildinterpretationen oft zu kurz. Es ist wichtig, die in der Raumgestaltung angelegten Muster zu begreifen, um die Gesamtaussage voll verstehen zu können.
Und ist sich die Kunstwelt darüber nicht einig?
Es gibt viel Diskussionspotenzial. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Fachrichtungen Bildwissenschaft und Architekturgeschichte so weit auseinanderentwickelt, dass es dringend nötig ist, sie wieder an einen Tisch zu bringen. Eben deshalb widmet sich der Kongress dem Thema „Bild und Raum“. Es gibt dazu 12 Sektionen mit 48 Fachvorträgen, 19 Foren mit 122 Impulsreferaten und Kurzstatements sowie 30 Ortstermine, Workshops und Exkursionen. Ziel ist es, die Kluft zwischen Bildwissenschaft und Architekturgeschichte zu überbrücken, um uns gemeinsam den Herausforderungen zu stellen, die sich gegenwärtig neu auftun.
An was für Herausforderungen denken Sie da?
Virtuelle Räume sind quasi die Höhlen und Grotten von einst: Sie faszinieren die Menschen in Spielen, in Museen, in Lernumgebungen und in vielen anderen Kontexten. Neue technische Möglichkeiten bringen aber auch neue Risiken mit sich. Die KI „Sora“ ermöglicht es viel leichter und schneller als bisher, virtuelle Räume selbst zu gestalten. Unsere Wahrnehmung der Realität lässt sich so auf dramatische Weise manipulieren. Die kritische Analyse der Zusammenhänge von Bild und Raum besitzt daher heute eine kaum zu überschätzende Relevanz. Die Grundlagen hierfür lassen sich aber nur aus der systematischen Analyse historischer Bild-Raum-Ensembles gewinnen. Die Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Untersuchung älterer Werke ableiten lassen, bilden das Fundament für die Beschäftigung mit den Wirkmechanismen der Virtual Reality. Der Kongress wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten.
Zur Person
Prof. Dr. Christina Strunck
Lehrstuhl für Kunstgeschichte
Department Medienwissenschaften und Kunstgeschichte
Institut für Kunstgeschichte