Harmonische Weihnachten – eine Frage der Perspektive?
Soziologin Marie-Kristin Döbler plädiert für frühzeitiges Erwartungsmanagement
Im Dezember steigt bei vielen die Vorfreude: Kinder fiebern dem Heiligabend entgegen, weil sie es kaum erwarten können, den beleuchteten Baum zu sehen und darunter Geschenke zu finden. Eltern freuen sich auf die leuchtenden Augen der Kinder, wenn die Geschenke ausgepackt werden und sich die Familie fröhlich an den Festtagen versammelt. Ein harmonisches Bild – aber eben nur ein Teil der Wahrheit. Im Dezember steigt bei vielen der Stresspegel. Dr. Marie-Kristin Döbler, Institut für Soziologie, weiß warum.
Warum ist Weihnachten für viele Menschen der größte Stressfaktor des Jahres?
MKD: Zum einen wollen wir natürlich, beruflich oder im Studium, vieles noch vor Jahresende erledigen. Parallel setzen wir uns selbst unter Druck – vor allem unter Termindruck und Erwartungsdruck. Weihnachtsfeiern mit Kolleginnen und Kollegen, Besuche von Weihnachtsmärkten mit Freundinnen und Freunden müssen absolviert, Wunsch-, Einkaufs- und To-Do-Listen abgearbeitet werden. Und wir wissen alle, dass es nicht einfach ist, für alle immer das richtige Geschenk zu finden, es rechtzeitig und besonders hübsch verpackt, gegebenenfalls sogar per Post versendet zu haben. Schließlich sind dann auch noch die Feiertage und das Weihnachtsessen zu planen, die Wohnung ist auf Hochglanz zu bringen, ein Baum zu besorgen und zu schmücken, um an Weihnachten alles richtig schön zu haben und ein harmonisches Fest zu erleben.
Und dann ist es das gar nicht?
Doch, vielfach schon. Trotzdem prallen gerade an den Weihnachtsfeiertagen – mehr als an anderen Familienfesten – Vorstellungen aufeinander: Nach längerer Zeit sehen sich manche Familienmitglieder das erste Mal wieder, bei weitaus mehr kommt es zu einer Präsenz ungewohnten Ausmaßes und oft zu ungewollter Nähe, schon aus Platzgründen. Allein das stresst viele. Zusätzlich bringen alle dann auch noch bestimmte Gewohnheiten, Eigenheiten, Marotten und Ansichten davon mit, wie die Feiertage abzulaufen, wie sich die Feiernden zu verhalten haben.
Aber was lässt sich denn dagegen tun?
Es mag banal erscheinen – aber wie so oft ist die Kommunikation, schon im Vorfeld, das Wichtigste, nicht nur, wenn Menschen sich länger nicht gesehen haben. Wenn der Enkel Vegetarier geworden ist, weiß ich das lieber vorher – sonst ärgere ich mich am Weihnachtstag darüber, dass er den Braten verweigert, er, weil er nichts zu essen kriegt und alle anderen darüber, dass man sich an Heiligabend darüber streitet, ob Fleisch essen nun Tradition oder ökologisch nicht mehr zu rechtfertigen ist. Und das Essen ist nur ein Beispiel für unterschiedliche Erwartungshaltungen oder Missverständnisse. Oftmals sind die Erwartungen – weder unsere noch die der anderen – gar nicht zu hoch, sondern wir wissen schlicht gar nicht, wer was erwartet und welche Erwartungen wir uns fälschlicherweise wechselseitig zuschreiben. Vielleicht denken wir nur, dass die anderen erwarten, dass alles wie immer, alles wie früher ist, aber das ist gar nicht so.
Was meinen Sie damit?
Vielleicht stimmt es ja und erwachsene Kinder wollen wieder Kinder sein, sich staunend unter dem traditionell geschmückten Baum versammeln und Familienrituale zelebrieren, vielleicht wünschen sich Eltern, dass die ganze Familie wie gewohnt an Weihnachten ‚Zuhause‘ zusammenkommt, die Kinder Kinder und die Eltern Eltern sind. Vielleicht wollen aber auch die Eltern endlich alles etwas moderner und lockerer gestalten und auf die Traditionen verzichten, schließlich sind die Kinder schon erwachsen – und ‚die Kinder‘ mit oder ohne Partner oder Partnerin und eigene Kinder wollen zwar vielleicht die Traditionen fortsetzen, aber trotzdem auf Augenhöhe als Erwachsene behandelt werden.
War das früher auch alles so kompliziert?
Zündstoff barg Weihnachten sicherlich schon immer. Geändert hat sich aber vermutlich zweierlei: Einerseits werden unterschiedliche Sichtweisen heutzutage eher geäußert, etwa weil sich Autoritätsverhältnisse verändert haben und es eher möglich ist, auch den Großeltern oder Eltern zu widersprechen. Andererseits sind unsere privaten Lebensformen vielfältiger geworden. Daher gilt es nicht nur Erwartungen zu managen, sondern eben auch noch verschiedene Patchwork-, Stief- oder Herkunftsfamilien und damit unter Umständen unterschiedlichste Weltbilder, Lebensgewohnheiten und Weihnachtsbräuche zu koordinieren.
Wie sollen Familien damit umgehen?
Vielleicht müssen sie sich einfach gemeinsam im Klaren darüber werden, was sie wirklich wollen: eine gute Zeit zusammen verbringen. Dabei hilft, bestimmte Handlungsmuster zu vermeiden, nicht in alte Rollen zurückzufallen und beispielsweise anzuerkennen, dass die Kinder mittlerweile erwachsen sind und es nicht um den traditionell geschmückten Baum, den perfekten Braten oder darum geht, dass alles genauso wie früher ist. Ganz im Gegenteil können Rituale sich verändern oder müssen das sogar. Wir verändern uns ja auch. Daher sind Toleranz, Gelassenheit und Humor wichtig: Es kann in Ordnung sein, wenn es die Eltern sind, die dem Heiligabend entgegenfiebern, weil sie es kaum erwarten können, den beleuchteten Baum und darunter ihre Kinder wieder zu finden und sich die Kinder darauf freuen, die leuchtenden Augen der Eltern zu sehen, wenn sie zu Weihnachten nach Hause kommen. Das harmonische Bild ist sicherlich nicht die, aber gewiss ein Teil der Wahrheit.
Kontakt
Dr. Marie-Kristin Döbler
Institut für Soziologie
marie-kristin.doebler@fau.de