Stenografische Vermerke in historischen Dokumenten entziffern
Wissenschaftler wollen einen Vergil-Kommentar dechiffrieren und ein digitales Transkriptions-Tool entwickeln
Ein digitales Werkzeug soll dabei helfen, stenografische Vermerke in historischen Dokumenten zu entziffern. Die Entwicklung eines solchen Tools, mit dem sich auf der Basis von Mustererkennung antik-frühmittelalterliche Stenografie transkribieren und edieren lässt, ist Ziel eines interdisziplinären Forschungsprojekts, an dem die FAU beteiligt ist. Die Grundlage dafür bildet ein aus dem 9. Jahrhundert überlieferter Kommentar zu dem römischen Dichter Vergil. Dieser Text, der handschriftlich in einer Kurzschrift verfasst wurde, ist weitgehend unerschlossen und soll nun dechiffriert werden. Das Projekt unter Federführung der Universität Heidelberg wird von der VolkswagenStiftung mit rund 350.000 Euro über einen Zeitraum von 18 Monaten gefördert.
Der Vergil-Kommentar „Vergilius Turonensis“ entstand im Skriptorium – der Schreibstube – der Abtei St. Martin in Tours, Frankreich, und gehört heute zum Bestand der Burgerbibliothek in Bern, Schweiz. Es ist das umfangreichste Zeugnis der Vergil-Studien in der Zeit der „Karolingischen Renaissance“. Diese mit einem kulturellen Aufschwung verbundene Erneuerung ging vom Hof Karls des Großen im 8. Jahrhundert aus und hatte laut Projektleiter Prof. Dr. Tino Licht, großen Einfluss auf die mittellateinische Sprache und Literatur. Der Vergil-Kommentar in der Berner Handschrift wurde in einer Kurzschrift niedergeschrieben, dem in der Antike entwickelten Schriftsystem der Tironischen Noten. „Dieses Abkürzungssystem ist äußerst komplex und daher sind diese Texte nur sehr schwer aufzulösen“, betont der Heidelberger Wissenschaftler.
Die beteiligten Wissenschaftler wollen die Tironischen Noten im „Vergilius Turonensis“ nun entziffern und darauf aufbauend ein digitales Verfahren entwickeln, mit dem sich auf der Basis der Mustererkennung komplexe Kurzschriften transkribieren und edieren lassen. „Da diese frühe Art der Stenographie oft individualisierte Formen annimmt oder mehrgliedrig-komplex ist, laufen automatisierte Transkriptionsverfahren ins Leere. Wir brauchen daher ein Tool, das bei der individuellen Arbeit an den historischen Zeugnissen Hilfestellung leistet“, erläutert Prof. Licht. Dieses Werkzeug soll perspektivisch darauf ausgerichtet sein, auch bei anderen Kurzschriftsystemen eingesetzt werden zu können. „Auf diese Weise soll es dazu beitragen, kaum lesbares Literatur- und Verwaltungsschrifttum in wechselnden Systemen bis in die heutige Zeit zugänglich zu machen.“
An dem Projekt „Stenographie in historischen Dokumenten. Entwicklung eines Kurzschrifttools auf Grundlage der Dechiffrierung eines Vergil-Kommentars in tironischen Noten“ sind der Buchwissenschaftler Prof. Dr. Nikolaus Weichselbaumer von der Universität Mainz und der Informatiker Dr. Vincent Christlein von der Universität Erlangen-Nürnberg beteiligt.
Weitere Informationen
Dr. Vincent Christlein
Lehrstuhl für Informatik 5 (Mustererkennung)
Tel.: 09131/85-27823
vincent.christlein@fau.de