Wahlreform mit Haken – eine wahlsystematische Randnotiz
Ein Kommentar von FAU-Wahlrechtsexperte Prof. Dr. Michael Krennerich
Es gibt wohl kaum Themen, die die Oppositionsparteien der Union und der Linken zu einer solchen Eintracht einen: Die Wahlrechtsreform, die der Bundestag auf den Weg gebracht hat, wird von ihnen heftig kritisiert, sie haben eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) beschäftigt sich Prof. Dr. Michael Krennerich seit Jahren mit Wahlen und den zugrundeliegenden Wahlsystemen – ein Kommentar.
Keine Frage, der Bundestagstag ist aktuell zu groß. Statt der vorgesehenen Zahl von 598 Sitzen wuchs der Bundestag aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten 2017 auf 709 und 2021 auf 763 Abgeordnete an. Damit ist der Bundestag weltweit das größte Parlament in einer liberalen Demokratie und er drohte aufgrund der Veränderungen der Parteienlandschaft noch weiter anzuwachsen. Abgesehen von der Frage der Arbeits- und Funktionsfähigkeit stößt ein solch aufgeblähtes Parlament auf Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung. Eine Reform war überfällig.
Gelungene Wahlrechtsreform – auf den ersten Blick
Vorderhand scheint die Reform gelungen. Die Zahl der Abgeordneten wird auf 630 festgelegt und an dem Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl wird konsequent festgehalten: Die Parteien erhalten somit so viele Mandate im Parlament wie ihnen nach Zweitstimmen, künftig „Hauptstimmen“ genannt, zustehen. Jedoch wird dies über die Abschwächung der Persönlichkeitselemente der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl erkauft.
Das zentrale Merkmal – und zugleich die wesentliche Stärke – der personalisierten Verhältniswahl besteht darin, dass sie die Vergabe von Direktmandaten in Einerwahlkreisen mit dem Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl verknüpft. In internationalen Wahlsystemreformdebatten wird dies mitunter geschätzt, weil dadurch im Prinzip möglich (obgleich in der Praxis nicht immer gegeben) ist, eine enge Wahlkreisanbindung der Abgeordneten zu gewährleisten und gleichzeitig faire, proportionale Ergebnisse herbeizuführen. Neuseeland hat aus diesem Grund in den 1990er-Jahren das britische Mehrheitswahlsystem abgeschafft und ein dem deutschen System nachempfundenes „Mixed Member Proportional System“ eingeführt.
Weltweit einzigartig: Wahlkreis gewonnen und am Ende dennoch verloren
Die verabschiedete Wahlreform hält in einer abgeschwächten Form an der personalisierten Verhältniswahl fest, enthält aber ein weltweit einzigartiges Element: Der Sieger oder die Siegerin im Wahlkreis kann leer ausgehen. Da nunmehr nur noch so viele direkt gewählte Abgeordnete eines Bundeslands in den Bundestag einziehen dürfen, wie der jeweiligen Partei dort nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, enthalten – infolge dieser „Hauptstimmendeckung“ – möglicherweise nicht alle direkt gewählten Abgeordneten auch tatsächlich einen Sitz im Parlament. Dies verstößt aber gegen das demokratische Prinzip, das da heißt: Wer im Wahlkreis gewählt ist, ist gewählt. Ihm oder ihr sollte nicht das Mandat vorenthalten oder nachträglich entzogen werden.
Die Grundmandatsklausel, die abgeschafft wird, ist wiederum kein zwingendes Element der personalisierten Verhältniswahl; sie bricht aber mit der bundesdeutschen Wahltradition, da dem deutschen Föderalismus Regionalparteien nicht fremd sind. Die Klausel sieht bislang vor, dass eine Partei, die drei Direktmandate erhält, so viele Abgeordnete in den Bundestag entsendet, wie ihr gemäß Zweitstimmen proportional zustehen. Sie ermöglicht Parteien, die 5-Prozent-Hürde zu umgehen, die in Deutschland eine Zersplitterung des Parteiensystems im Parlament verhindern soll. Dadurch sollen diejenigen Parteien im Bundestag proportional repräsentiert werden, die zwar nicht bundesweit, aber örtlich oder regional besonders stark vertreten sind, also sogenannte „profilierte Schwerpunktparteien“.
Ungeachtet der vielen mehr oder minder klugen Wahlreformvorschläge, welche die Parteien diskutiert haben: An eine grundlegende Wahlreform haben sie sich nicht getraut. Wenn man aber an dem bestehenden Wahlsystemtyp der personalisierten Verhältniswahl – und sei es auch nur in abgeschwächter Form – festhält, dann muss man den Wähler/-innenwillen bei der Direktwahl von Abgeordneten respektieren. Es ist nicht auszuschließen, dass dies das Bundesverfassungsgericht ähnlich sieht.
Über Prof. Michael Krennerich
Michael Krennerich ist Professor für Politische Wissenschaft an der FAU und internationaler Wahlrechtsexperte. Im Jahr 2021 verfasste er das Buch „Freie und faire Wahlen? Standards, Kurioses, Manipulationen“, das auch ins Englische und Französische übersetzt wurde.
Weitere Informationen
Prof. Dr. Michael Krennerich
Institut für Politische Wissenschaft
Tel.: 09131/85-23271
michael.krennerich@fau.de