Wissenschaft + Diplomatie = Wissenschaftsdiplomatie

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Interview mit Prof. Dr. Maria Rentetzi

Prof. Dr. Maria Rentetzi hat seit 2021 den neuen „Lehrstuhl für Science, Technology and Gender Studies“ an der FAU inne. Die Physikerin und Historikerin hat ihren Forschungsschwerpunkt in der Schnittmenge von Wissenschaft und Technik, Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte der Diplomatie, politischer Wissenschaft und den internationalen Beziehungen.

Eines Ihrer großen Forschungsprojekte hat einen Bezug zur Atompolitik. Sie erforschen derzeit, wie es im 20. Jahrhundert zur Verlagerung der Deutungshoheit beim Thema Strahlenschutz weg von wissenschaftlichen und hin zu diplomatischen Organisationen wie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) gekommen ist. Wieso ist gerade dieses Thema für Sie so interessant?

Ich habe einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Thema. Mein Vater hat 2010 im hohen Alter die Diagnose Leukämie erhalten. Eine Krankheit, die man meist eher in jüngeren Jahren bekommt. Das war für mich Anlass zu fragen, warum gerade er mit fast 80 Jahren daran erkrankt ist. Der Arzt meinte, es gebe einen Zusammenhang zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986. Man muss dazu wissen, dass vor allem in Nordgriechenland Leukämie sehr verbreitet ist. Das hat mich dazu veranlasst, mich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen. 2011 wurde ich schließlich auf Initiative des Direktors der „Division of Human Health, Nuclear Sciences and Applications“ an die IAEO nach Wien als Beraterin eingeladen. Als Physikerin und Historikerin sah ich die einmalige Möglichkeit, dort auf für dieses Thema wirklich einmalige Archive zugreifen zu können.

Der European Research Council (ERC) unterstützt Ihre Forschung mit zwei Millionen Euro – eine Finanzierung nur für die besten Forscher/-innen in Europa. Im Kontext der Verleihung dieses ERC Consolidator Grants haben Sie betont, dass eine diplomatische Wende in der Wissenschaftsgeschichte nötig sei. Was verstehen Sie unter dieser „diplomatischen Wende“?

Diese Überlegung geht zurück auf meine Erfahrungen, die ich persönlich im Zusammenhang mit der IAEO gemacht habe. Wie schon gesagt hatte ich als eingeladene Beraterin Zugang zu nahezu Allem. Allerdings musste ich eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben und durfte das Material nicht für meine wissenschaftliche Arbeit nutzen. 2014 habe ich als Wissenschaftlerin nochmals versucht, Zugang zu den IAEO-Archiven zu bekommen. Das gestaltete sich aber äußerst schwierig. Letztendlich hatte ich die Erlaubnis, einmal im Monat auf die Archive zugreifen zu können. Für eine Historikerin, die in einem zeitlich begrenzten Rahmen arbeiten muss, ist das natürlich nicht zufriedenstellend und macht wissenschaftliches Arbeiten nahezu unmöglich.

Also habe ich gefragt, wie das geändert werden kann. Ich bekam die Antwort, dass ich mich an die Botschaft meines Landes wenden und der Botschafter schriftlich beim IAEO-Generaldirektor das geplante Vorhaben thematisieren müsse. Das hat mich zur Erkenntnis gebracht, dass die Wissenschaftsgeschichte, insbesondere wenn es um Themen geht, bei denen internationale Organisationen beteiligt sind, die Diplomatie mit ins Boot holen muss. Denn um es am Beispiel der IAEO festzumachen: Diese versteht sich ihrem Selbstverständnis nach als politische und diplomatische Organisation und nicht als wissenschaftliche.

Eine Frau steht vor einem Bücherregal.

Prof. Dr. Maria Rentetzi, Lehrstuhl für Science, Technology and Gender Studies an der FAU. (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

Die Europäische Union ist bestrebt, die Kernenergie für nachhaltig zu erklären. Ein Vorhaben, das eine alte Diskussion wiederbelebt hat – über die Sicherheit von Kernkraftwerken, das Problem der Endlagerung von Atommüll, etc. Wie sehen Sie als Wissenschaftlerin, die viel Zeit damit verbracht hat, das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und politischem Handeln zu analysieren, diese Entwicklung?

Bei den Plänen aus Brüssel, der Atomkraft ein grünes Label auszustellen und diese als klimafreundlich einzustufen, sind nicht wissenschaftliche Aspekte zentral. Stattdessen spielt die Unterstützung der Atomindustrie eine entscheidende Rolle. Darum geht es bei diesen Bestrebungen und Diskussionen im Kern. Denn um die Atomindustrie ist es nicht gut bestellt. Laut „World Nuclear Industry Status Report“ sind derzeit weltweit noch 414 Reaktoren in Betrieb. Vor 20 Jahren waren es noch 30 mehr. Die Kosten für Atomkraftwerke explodieren, die Errichtung dauert länger als geplant. Kurzum: Die Atomindustrie befindet sich auf dem absteigenden Ast. Aus diesem Grund hat 2020 sicherlich auch Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der IAEO, vor den Vereinten Nationen die Atomenergie als die Lösung für die Klimakrise hervorgehoben. Natürlich schürt in dieser Hinsicht inzwischen auch der Ukraine-Krieg Hoffnungen, was ein Revival der Atomindustrie betrifft.

Mit dem Krieg in der Ukraine bekommt die Diskussion nochmals neue Facetten …

Natürlich. In erster Linie müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass durch den Krieg die nukleare Ordnung gerade im Begriff ist, sich zu wandeln – nicht zum Guten. Wir erleben, was es bedeutet, wenn die Kernenergie eben nicht zur friedlichen Nutzung in der Medizin oder für die Energiegewinnung im Mittelpunkt steht. Der Krieg rückt die in jüngster Vergangenheit oft ausgeblendete schlechte und kriegerische Seite der Kernenergie wieder in den Fokus. Und wir bekommen auch schmerzlich vor Augen geführt: Atomkraftwerke sind definitiv nicht dafür gebaut, kriegerischen Angriffen standhalten zu können. Fest steht so oder so: Bei Atomkraft handelt es sich keinesfalls um nachhaltige Energie.

Porträt Rentetzi
Prof. Dr. Maria Rentetzi. (Foto: Glasow Fotografie)

In einem anderen EU-Forschungsprojekt – „InsSciDE“ – beschäftigen Sie sich mit der Einführung einer gemeinsamen Wissenschaftsdiplomatie für Europa. Worum geht es dabei?

Es handelt sich bei „InsSciDE“ um ein von der EU gefördertes Projekt, an dem zahlreiche Universitäten und Institutionen, wie die UNESCO, noch bis zum Sommer mitarbeiten. Es zielt ab auf die Entwicklung einer gemeinsamen Wissenschaftsdiplomatie in ganz Europa durch internationale und interdisziplinäre Forschung. Wir wollen einen Dialog schaffen und den Beitrag von Wissenschaftsakademien und Netzwerken von Wissenschaftsdiplomat/-innen zur Bewältigung globaler Herausforderungen hervorheben. Dafür erforschen wir die Geschichte der Wissenschaftsdiplomatie und erarbeiten Strategie- und Politikempfehlungen.

Sollten Wissenschaftler/-innen überhaupt Diplomat/-innen sein?

Meiner Ansicht nach sind Wissenschaftler/-innen historisch gesehen immer schon auch Wissenschaftsdiplomat/-innen gewesen. Einer der ersten war Galileo Galilei. Heute gilt er als einer der wichtigsten Begründer der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften. Doch die katholische Kirche verurteilte ihn zunächst, weil einige seiner Theorien der damaligen Weltsicht widersprachen. Sein Ansinnen war es nicht, die Kirche zu widerlegen, vielmehr war ihm an einer Reform der Weltsicht seiner Zeit gelegen. Er war eine Art früher Wissenschaftsdiplomat.

Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass alle Wissenschaftler/-innen per se auch Diplomat/-innen sein sollten. Denn Wissenschaftler/-innen müssen erst in die Lage versetzt werden, der Öffentlichkeit dem Anlass entsprechend mitteilen zu können, was die im Moment drängendsten Themen sind. Doch man wird dafür nicht trainiert. Dafür braucht es kommunikative Werkzeuge. Deshalb starten wir an der FAU auch einen Zertifizierungskurs und wollen Wissenschaftsdiplomatinnen und Wissenschaftsdiplomaten  ausbilden.

Wie ist es derzeit um die Wissenschaftsdiplomatie bestellt?

Ich denke, dass die Wissenschaftsdiplomatie in ihrer bisherigen Form tot ist. Zumindest ist die Vorstellung, die wir von ihr haben, völlig veraltet. Wissenschaftsdiplomatie wird immer als weiches Instrument gesehen, als die gemeinsame internationale Sprache, mit der Konflikte gelöst werden können. Doch das ist sie nicht. Wissenschaftsdiplomatie war immer schon ein hartes Instrument, ein sehr politisches und konfliktträchtiges.

„Die Wissenschaftsgeschichte [muss], insbesondere wenn um Themen geht, bei denen internationale Organisationen beteiligt sind, die Diplomatie mit ins Boot holen.“

Die Wissenschaft beansprucht für sich aber doch, objektiv und neutral zu sein …

Als Akteur/-in auf der politischen Bühne ist sie das keinesfalls. Sie war es meiner Ansicht nach auch noch nie. Die Geschichte hat immer wieder das Gegenteil bewiesen. Das zeigt beispielsweise das Manhattan-Projekt in den USA, aus dem die Atombombe hervorging. Das zeigt aber auch der Umstand, dass es immer wieder wichtig war, woher man kommt, von wem man unterstützt wird, welche politische Richtung man vertritt oder wie viel Geld man hat, um wissenschaftlich tätig sein zu können. Immer wieder werden wir sogar dazu gedrängt, Wissenschaftskommunikation als politischen Akt zu betreiben. Wer eine Förderung für ein Forschungsvorhaben bekommt, muss seine Resultate auch kommunizieren, das ist meist so vorgegeben. Die Wissenschaft war immer schon mit der Politik verflochten. Das müssen wir alle zur Kenntnis nehmen.

Im Verlauf der Corona-Pandemie hat ein Phänomen stark zugenommen: das Leugnen von wissenschaftlichen Fakten und der Glaube an das, was manche „alternative Fakten“ nennen. Gibt es ein historisches Vorbild für solche Entwicklungen?

Grundsätzlich ist für mich der Ausdruck „alternative Fakten“ ein Widerspruch in sich. Als Wissenschaftlerin sage ich: Es gibt nur die Unterscheidung zwischen Fakten und Nicht-Fakten. Und ich glaube ausschließlich an Fakten. Was wir jedoch heute ganz sicher als Fakt erachten, wird nicht zwangsläufig auch wissenschaftlichen Entwicklungen in der Zukunft Stand halten können. Allerdings hat die Geschichte natürlich Beispiele für solche Entwicklungen geliefert. Ich bleibe bei Galileo. Heute stehen wir wissenschaftlich auf seiner Seite und nicht auf der Seite der katholischen Kirche. Doch es hat lange gedauert, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat. Viele haben seinen Fakten erst mal keinen Glauben geschenkt.

Daraus ergeben sich für mich zwei Erkenntnisse: Da sind der Glaube und die Hoffnung, dass faktenbasierte Wissenschaft am Ende immer siegt. Und natürlich ist es nicht immer nur negativ, wissenschaftliche Fakten anzuzweifeln. Wissenschaft ist immer auch ein Prozess des Zweifelns und der Suche nach neuen Erkenntnissen. Aber ich betone es noch mal: Dieser Prozess muss immer faktenbasiert sein. Dazu gibt es keine Alternative.

von Michael Kniess


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Alexander 119

In der aktuellen Ausgabe finden Sie Beiträge zu folgenden Themen: Wie Wissenschaft und Diplomatie zusammenspielen können, welche Wege mit der Wasserstofftechnologie LOHC gegangen werden sollen, einen Einblick in die abenteuerliche Donaufahrt der FAU-Römerboote, ein Interview mit dem Paralympicsathleten und Jura-Studenten Josia Topf sowie ein Porträt mit dem neuen Humboldt-Professoren Vincent C. Müller.

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Die Professur wird im Rahmen der Hightech Agenda Bayern gefördert. Mit diesem Programm schafft die Bayerische Staatsregierung unter anderem 1.000 neue Professuren in zentralen Zukunftsbereichen wie Künstliche Intelligenz, Clean Tech und Luft- und Raumfahrt, stärkt so die Spitzenstellung Bayerns in Forschung und Lehre und fördert die Entwicklung neuer Ideen und neuester Technologien sowie deren Umsetzung in die Praxis.