„Ich verstehe die Menschenrechtsarbeit als Widerstand gegen Ungerechtigkeit“

Zwei Männer halten eine Urkunde hoch.
Der Premierenpreisträger ist der indische Menschenrechtsforscher und –aktivist Dr. Harsh Mander (rechts). Prof. Dr. Georg Schett, Vizepräsident Research an der FAU, übergab den Preis für Dr. Manders außergewöhnliche Leistungen gegen Hassgewalt, in der Arbeit mit Straßenkindern und anderen sozial ausgegrenzten Personen. (Bild: FAU/Kurt Fuchs)

FAU-Menschenrechtspreisträger Dr. Harsh Mander im Interview

Zum ersten Mal wird der FAU-Menschenrechtspreis vergeben. Er zeichnet international profilierte Personen aus, die sich sowohl wissenschaftlich als auch mit praktischem Engagement für die Menschenrechte einsetzen. Der Premierenpreisträger ist der indische Menschenrechtsforscher und -aktivist Dr. Harsh Mander. Prof. Dr. Georg Schett, Vizepräsident Research an der FAU, übergab den Preis für Dr. Manders außergewöhnliche Leistungen, die ihn auch auf die Shortlist des Friedensnobelpreises 2022 gebracht haben.

Im Interview beschreibt Dr. Harsh Maner seine Arbeit.

Sehr geehrter Dr. Harsh Mander, herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des ersten FAU-Menschenrechtspreises. Könnten Sie sich bitte kurz vorstellen?

Ich danke Ihnen vielmals. Diese Eröffnungsfrage macht mich immer etwas nervös! Denn ich versuche, zu viele Dinge zu tun, und es ist immer eine Herausforderung, alle Tätigkeiten kurz zu erklären. Aber lassen Sie es mich versuchen.

Was die scheinbar disparaten Teile meiner Arbeit miteinander verbindet, ist das Bestreben, den am meisten von Ungerechtigkeit betroffenen Menschen ein Leben in Würde und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Dazu gehören religiöse, kastenbasierte und geschlechtliche Minderheiten, die Überlebende von Hassgewalt und Diskriminierung sind, Menschen, die gezwungen sind, mit Hunger zu leben, Obdachlose und Straßenkinder, stark stigmatisierte Menschen wie Leprakranke, informelle unfreie Arbeitskräfte und so weiter. Oft werden diese Menschen als „sozial ausgegrenzt“ bezeichnet; die Menschen, denen ich mein Lebenswerk gewidmet habe, lassen sich am besten als „sozial ausgestoßen“ beschreiben.

Meine Arbeit umfasst auf der einen Seite direkte Zusammenarbeit mit diesen Gemeinschaften und auf der anderen Seite Interventionen mithilfe von Recht und Politik, einschließlich der Politik- und Rechtsgestaltung sowie menschenrechtliches Engagement, Interventionen in Gerichtsprozessen, Schreiben, Forschung und Lehre.

Mit dem FAU-Preis werden Expert/-innen geehrt, die sich sowohl wissenschaftlich als auch mit praktischem Engagement für die Menschenrechte einsetzen. Wie genau beeinflusst Ihre wissenschaftliche Arbeit Ihren Aktivismus – oder umgekehrt?

Mein Schreiben und meine Forschung sind, und waren schon immer, eine unverzichtbare Ergänzung zu meiner Menschenrechtsarbeit. Ich schreibe zum Beispiel ausführlich und ganzheitlich über die Menschen, mit denen ich arbeite, damit sie nicht auf „Opfer“ reduziert werden, denen man helfen muss, oder auf „Anliegen“, die man verteidigen muss. Wir begegnen ihnen stattdessen in ihrer vollen und umfassenden Menschlichkeit. Ich habe außerdem versucht, eine Erkenntnistheorie der Empathie zu entwickeln – eine Art des Denkens mit dem Herzen –, die ich für essenziell halte, weil ich überzeugt davon bin, dass die Wege zur Menschenrechtsarbeit, Solidarität und Widerstand mit Empathie gepflastert sein müssen.

Was sind die Eckpfeiler Ihrer Menschenrechtsarbeit?

Amartya Sen stellt in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ fest, dass es an keinem Ort der Welt und zu keiner Zeit der Geschichte eine menschliche Gesellschaft gab, die nicht durch irgendeine Form von Ungerechtigkeit gekennzeichnet war und ist. Er stellt aber auch fest, dass es nirgendwo auf der Welt und in keiner Epoche der Geschichte eine menschliche Gesellschaft gab, die nicht auch durch Widerstand gegen Ungerechtigkeit gekennzeichnet war und ist. Ich verstehe die Menschenrechtsarbeit heute als Erbe dieser universellen, stolzen menschlichen Tradition des Widerstands gegen Ungerechtigkeit.

Sen fragt weiter: Welche intrinsische Eigenschaft der menschlichen Natur ist es, die den Widerstand gegen Ungerechtigkeit universell macht? Seine Antwort besteht aus drei Punkten. Zunächst ist es die Eigenschaft der Empathie – die Fähigkeit, den Schmerz eines oder einer anderen wie den eigenen zu empfinden. Die zweite Eigenschaft ist die Fähigkeit zur Vernunft, also die Fähigkeit – nachdem man den Schmerz der Ungerechtigkeit an sich selbst oder an einem oder einer anderen erfahren hat – zu fragen: Warum? Darauf folgt die Frage: Was muss getan werden, um diese Ungerechtigkeit zu beenden? Die dritte menschliche Eigenschaft ist die universelle Liebe zur Freiheit.

Diese drei menschlichen Qualitäten – Empathie, Vernunft und Freiheitsliebe – bilden die Eckpfeiler meiner Menschenrechtsarbeit. Jegliche Arbeit für die Menschenrechte muss in der Empathie, in dem, was ich „egalitäres Mitgefühl“ nenne, in der Mitmenschlichkeit, in der Solidarität verankert sein, und in dem, was ich „radikale Liebe“ nenne: Liebe, die auf großem Mut beruht. Meine Arbeit orientiert sich an der Vorstellung, dass eine gute Gesellschaft eine Gesellschaft ist, in der wir füreinander sorgen. Ein guter Staat ist ein Staat, der seine vorrangige Aufgabe darin sieht, jedem Menschen den für ein Leben in Würde notwendigen, gleichberechtigten Zugang zu Gütern, Dienstleistungen und Chancen zu sichern – angefangen bei den am meisten Unterdrückten und Besitzlosen.

Mahatma Gandhi hinterließ einen Slogan: „Last Person First“ (Die letzte Person zuerst); er gab uns damit einen, wie er es nannte, „Talisman“ an die Hand, für Situationen, in denen wir uns nicht sicher sind, welche öffentliche Maßnahme zu ergreifen ist. Gandhi sagte: Denken Sie an die verletzlichste Person, die Sie kennen, und fragen Sie sich, ob das, was Sie tun wollen, das Leben dieser Person verbessern und ihre Freiheit vergrößern wird. Wenn Sie sich diese Frage stellen, werden alle Ihre Verwirrungen verschwinden.

Können Sie die Schwierigkeiten beschreiben, die Sie bei Ihrer täglichen Arbeit überwinden müssen?

Die erste Herausforderung bei unserer Arbeit besteht darin, dass wir bei allem, was wir tun, unseren Werten treu und widerspruchsfrei bleiben müssen. Das ist nie einfach. Es verlangt von uns, dass wir bei jedem Schritt nicht nur kritisch prüfen, wie viel wir erreicht haben, sondern auch – was noch wichtiger ist – ob wir diese Ziele auf eine Weise errungen haben, die mit unseren Werten vereinbar ist. Waren wir wahrheitsgetreu? Waren wir fair und gerecht? Haben wir wirklich jeden Menschen – unsere Mitarbeiter/-innen sowie die Menschen, deren Menschenrechte verletzt wurden (und, was am schwierigsten ist, auch die Täter/-innen) – als Menschen gleicher Würde und gleichen Werts respektiert? Sind wir gütig gewesen?

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern. Meine Mitstreiter/-innen und ich haben über ein Jahrzehnt lang versucht, für einige hundert Überlebende eines brutalen kommunalen Massakers im Jahr 2002 im indischen Bundesstaat Gujarat, bei dem hauptsächlich muslimische Minderheiten angegriffen wurden, Gerechtigkeit zu erlangen. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass es wichtiger ist, die Strafverfahren gegen die mächtigen Täter des Massakers mit Wahrheit und Gerechtigkeit zu gewinnen, als „nur“ zu gewinnen. Wir verpflichteten uns daher, niemals die Unwahrheit zu sagen und keine Bestechungsgelder zu zahlen, selbst wenn wir dadurch riskierten, den Fall vor Gericht zu verlieren. Am Ende haben wir viele der Fälle vor Gericht verloren, aber meine Mitstreiter/-innen inklusive derer, die Menschenrechtsverletzungen erlitten hatten, waren trotzdem guter Dinge, weil sie glaubten, dass sie Wahrheit und Gerechtigkeit hochgehalten hatten.

Es ist ein Kampf der anderen Art, wenn der Staat autoritär und bösartig wird. Das mussten wir in den letzten Jahren in Indien erleben. Mir wurde eine sagenhafte Bandbreite von Verbrechen vorgeworfen, die von Volksverhetzung über Aufruhr bis hin zur Geldwäsche reichen, und die es dem Staat ermöglichen könnten, mich für den Rest meines Lebens hinter Gittern zu bringen. Die meisten Organisationen, die ich in den letzten 20-25 Jahren mitaufgebaut und geleitet habe, sind geschlossen oder von vorzeitiger Schließung bedroht.

Was sind die nächsten Schritte für Sie und Ihr Team?

In so düsteren Zeiten wie diesen glaube ich, dass es meine höchste öffentliche Pflicht ist, nicht zuzulassen, dass die Stimme meines Gewissens zum Schweigen gebracht wird, was auch immer die Konsequenzen sein mögen. Entgegen dem Rat vieler Anwälte/Anwältinnen und lieber Freunde/Freundinnen bestehe ich also darauf, mich weiterhin gegen Ungerechtigkeit und Hass auszusprechen, ungeachtet der Konsequenzen, solange ich lebe.

Was sich heute in Indien abspielt, ist nicht weniger als ein Kampf zur Verteidigung der wahren Freiheit und Demokratie. Roosevelt sprach von vier Freiheiten: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Angst. Wenn wir uns heute mein Land und viele Teile der Welt ansehen, werden wir daran erinnert, wie die Menschenrechte zerbröckeln, wenn Freiheiten zerbrechen.

Wir müssen auch daran denken, dass Demokratie viel mehr ist als Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht. Demokratie ist nicht nur der Wille der Mehrheit, sondern der Schutz aller Freiheiten und Rechte jeder Minderheit, angefangen mit dem Recht auf gleiche Staatsbürgerschaft. Demokratie ist die robuste und entschlossene Verteidigung des Rechts auf friedlichen Dissens und Widerstand. Die Unterstützung, um die ich die Menschen bitte, besteht darin, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte der am meisten Unterdrückten unter uns zu kämpfen.

Helfen Sie, eine Gesellschaft der Liebe und der Fürsorge aufzubauen. Ja, seien Sie gütig.

Kurzbiografie

Ein Mann mit Brille sitzt auf einer Bank und schaut in die Kamera. Er trägt einen roten Pullover und ein grün kariertes Hemd.
Dr. Harsh Mander (Bild: privat)

Dr. Harsh Mander ist ein indischer Menschenrechtswissenschaftler und -aktivist, der mit Straßenkindern und Personen arbeitet, die Massengewalt, Hunger oder Obdachlosigkeit erleben. Er trat 1980 in den indischen Verwaltungsdienst ein, wo er in Madhya Pradesh und Chhattisgarh in hochrangingen Positionen diente. 2002 ging er aus Protest gegen die Rolle des Staates bei dem kommunalen Massaker in Gujarat in den Vorruhestand. Später war Dr. Mander Sonderbeauftragter des Obersten Gerichtshofs von Indien und setzte sich für die Einhaltung des Rechts auf Nahrung ein. Als Mitglied des Nationalen Beirats des Premierministers befasste er sich vor allem mit Sozialpolitik und -gesetzgebung. Zusätzlich war Dr. Mander an zahlreichen zivilgesellschaftlichen Kampagnen beteiligt, wie etwa einer sozialen Bewegung, die in Indien erfolgreich das Recht auf Information durchsetzte. Dr. Mander hat zahlreiche Bücher geschrieben und an der Vrije Universität in Amsterdam promoviert.