Das „Erlanger Baby“ und das Umdenken in der Medizin

Prof. Dr. Andreas Frewer
Prof. Dr. Andreas Frewer (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

Wie vor 30 Jahren der Tod einer Schwangeren heftige Diskussionen auslöste – und bis heute nachwirkt

Vor 30 Jahren beschäftigte das „Erlanger Baby“ die Öffentlichkeit: Insgesamt 40 Tage lang wurde der Fötus im Körper seiner hirntoten Mutter am Leben gehalten bis er schließlich am 16. November 1992 verstarb. Wir haben mit Prof. Dr. Andreas Frewer, Medizinethiker und -historiker an der FAU, über seine neuesten Erkenntnisse zu diesem Fall gesprochen.

Was hat der Fall des „Erlanger Babys“ aus medizinethischer Sicht bewirkt?

Die dramatischen Ereignisse haben in der gesamten Gesellschaft sehr intensive Diskussionen über „gute Medizin“ und richtiges Handeln im Gesundheitswesen ausgelöst: Schwangerschaft, Sterben, Hirntod, Transplantation, die Würde des Menschen, eine adäquate Entscheidungs­findung in Kliniken, geschlechtsspezifische Moral, Macht und „Biopolitik“ – all diese Themen­komplexe wurden und werden weiterhin debattiert. Eine Fülle von Fernsehsendungen wie auch unter anderem Spielfilme haben die Hintergründe aufgegriffen. Ethikkomitees in Kliniken und der Ethikrat auf nationaler Ebene wurden gegründet, das Fach Medizinethik wird mittlerweile an fast allen Universitäten gelehrt.

Welche neuen Erkenntnisse haben Ihre Forschungen zu Tage gefördert?

Das neue Buch zur Medizinethik fächert die Entwicklungen in dieser „Gründerzeit“ der Medizinethik nochmals systematischer auf. Durch die Bearbeitung des Nachlasses des FAU-Vizepräsidenten und Mediziners Prof. Dr. Hans-Bernhard Wuermeling, Gründungspräsident der Fachgesellschaft „Akademie für Ethik in der Medizin“ (AEM) und zentraler Experte im „Erlanger Fall“, werden die genauen Hintergründe klarer. Eine Studie wie auch zum ersten Mal veröffentlichte Briefwechsel – etwa mit dem weltweit bekannten Philosophen Hans Jonas – zeigen die Abläufe und den Umgang mit den wütenden Protesten von vielen Seiten, die etwa aus feministischer oder ökonomischer Sicht das Vorgehen stark kritisierten.

Vor seinem Tod hat Prof. Wuermeling auch brisante Details offenbart, etwa dass zentrale Erlanger Ärzte am Universitätsklinikum seinerzeit wohl zu sehr auf die Transplantation von Organen aus der hirntoten jungen Frau orientiert waren – dies war bis heute nicht bekannt. Ein aktuell publiziertes Fachforum der Akademie hat sich zudem mit den damaligen Ereignissen beschäftigt und gezeigt, wie sehr Expertise in diesem Fall interessengeleitet publiziert wird. So vertreten etwa Kontrahentinnen von Wuermeling ganz plötzlich eine Suizid-Versuch-Hypothese für die 18-jährige Schwangere, auch wenn dies durch die im Band genauer dargestellten Hintergründe des Unfalls eher unwahrscheinlich ist, um nur ein Beispiel zu nennen.

Der Fall bietet eine Reihe von fachlichen Projektionsflächen und wird zum „Spiegel“, der wiederum viel über persönliche Werte und die Gegenwartsperspektiven auf ethische Fragen von Leben und Tod aussagt.

In der Folge konnte bei ähnlichen Fällen das Baby gerettet werden, eines davon im Jahr 2008 am Uniklinikum Erlangen oder eines 2013 in Ungarn. Warum verlaufen seitdem die Diskussion ruhiger oder täuscht der Eindruck?

Das „Erlanger Baby“ war in gewisser Hinsicht die „Geburtsstunde“ des Faches und breiter interdisziplinärer Debatten zur Medizinethik – nicht nur mit Expertise aus Sicht von Philosophie, Recht, Sozialwissenschaften und anderen Gebieten, sondern in der gesamten Gesellschaft. Nach zahlreichen wütenden Protesten zu Beginn, Vergleichen mit Nazi-Medizin oder willkürlichen Menschen-Experimenten sowie vielfältigen Anfragen oder Anklagen – die Erlanger Ärzte mussten sich damals sogar kurz vor Gericht verantworten – haben wir in Deutschland zu differenzierteren Diskussionen und Einschätzungen gefunden.

Diese Entwicklung zu einem immer tieferen Verständnis der Vorgänge bei Sterben und Tod, die Verständigung über Menschenwürde wie auch die Grenzen von Intensiv- und Transplantations­­medizin ist ein sozial sensibler und sehr wichtiger Prozess, der viel mit Vertrauen in ärztliches Handeln und ein gerechtes Gesundheitswesen zu tun hat.

Klinische Ethikkomitees haben sich an vielen Orten gegründet und sorgen für bessere Beratung in der Praxis. Der Fall des „Erlanger Jungen“ hat darüber hinaus gezeigt, was der Körper einer „älteren“ Schwangeren und auch moderne Medizin zu leisten imstande sind – hier ergeben sich sogar philosophisch-anthropologische Dimensionen, die in der Gesellschaft Faszination für das Menschsein und den Lebenswillen auslösen können. Es war – und ist – viel aus den Fällen zu lernen.

Welche großen gesellschaftlichen Debatten bewegen heute die Medizinethik?

In gewisser Hinsicht sind es auch heute noch die gleichen Themen mit besonderer Bedeutung von Medizin und Ethik an den Grenzen des Lebens: Beginn und Ende unseres Daseins. In Deutschland wird sehr intensiv über die Grenzen von Pränatal- und Präimplantations­diagnostik, Schutz und Selektion von Embryonen sowie unter anderem „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche diskutiert. Seit Jahren steht ein neues Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin insgesamt auf der Tagesordnung. In den USA etwa sorgen die Problematik der Abtreibung und höchstrichterliche Urteile für sehr kontroverse Debatten.

Das Lebensende steht in Deutschland derzeit sogar noch stärker im Fokus: Die Covid-19-Pandemie hat den Umgang mit vulnerablen älteren Menschen in den Mittelpunkt gerückt, Probleme eventueller Triage auf Stationen werden erörtert. Durch das Bundesverfassungs­gericht wurde 2020 eine Neuordnung des Suizids angeregt, Fragen der Sterbehilfe wie auch der richtigen Palliativ- und Hospizbetreuung stehen im Zentrum vieler ethischer Debatten. Die Möglichkeit ärztlich assistierter Suizidhilfe könnte eine grundsätzliche Haltung von Hilfe und Lebensschutz der Profession in Frage stellen – hier steht die Gesellschaft möglicherweise vor gravierenden (Neu-)Bewertungen, die sowohl historisch-ethische als auch soziale Implikationen aufweisen. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind überall relevant.

Medizinethik ist ein angesehenes Fach und an den Universitäten wie auch Forschungseinrichtungen institutionalisiert, auf nationaler Ebene hat sich ein Ethikrat etabliert und vieles mehr – das heißt jedoch nicht, dass die moralischen Probleme weniger werden oder gelöst sind.

Gründerzeit der Medizinethik

Andreas Frewers Erkenntnisse zum „Erlanger Baby“ sind in das gerade erschienene Buch „Gründerzeit der Medizinethik“ eingeflossen, in dem die Entwicklung des Fachs in den vergangenen Jahrzehnten nachgezeichnet und kritisch diskutiert wird.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Andreas Frewer, M.A.
Professur für Ethik in der Medizin
Tel.: 09131/85-26431
andreas.frewer@fau.de