Mit japanischer Teekultur von der Physik entspannen
Wir präsentieren in einer Folge von 22 Beiträgen ein Panorama an FAU-Wissenschaftlerinnen verschiedener Qualifikationsstufen und akademischer Positionen, von der Studentin bis zur W3-Professorin. Als Role Models motivieren die Forscherinnen aus dem MINT-Bereich durch ihre individuellen Werdegänge Nachwuchswissenschaftlerinnen für eine akademische Laufbahn, denn sie geben interessante Einblicke in ihren beruflichen Werdegang. Dabei lernen wir die MINT-Expertinnen auch von ihrer privaten Seite kennen.
Doktorandin Yasmine M’Hirsi: Mit japanischer Teekultur von der Physik entspannen
Die Physikerin Yasmine M‘Hirsi ist in Tunesien geboren und aufgewachsen. Im Alter von 15 Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Frankreich und schloss dort die Highschool ab. Für ihr Universitätsstudium packte sie erneut ihre Koffer und zog nach Großbritannien, wo sie ihren Bachelor und Master absolvierte. Inzwischen arbeitet sie an der FAU an ihrer Promotion in Theoretischer Physik. Wegen der Pandemie war es ihr nicht möglich von Tunis, wo sie und ihre Familie wieder leben, nach Erlangen zu ziehen. So begann sie aus der Ferne an der FAU zu forschen. Die 24-jährige Wissenschaftlerin spricht fünf Sprachen, darunter Spanisch und Japanisch. Sie will unbedingt so schnell wie möglich Deutsch lernen. Doch Deutschland wird nicht ihr letzter Aufenthaltsort sein. Die Wissenschaftlerin plant eine internationale akademische Karriere und ist für jeden Ort offen.
Warum ich ein MINT-Fach gewählt habe
„Als ich jünger war, habe ich viele Fernsehsendungen geschaut. Um mein Programm abwechslungsreicher zu gestalten, schalteten meine Eltern Dokumentarfilme über Wissenschaft ein. Ein Dokumentarfilm, der mir besonders gut gefiel, handelte vom Großen Hadronen-Speicherring, also dem Teilchenbeschleuniger am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf. Der Physiker sprach sehr eloquent über Elementarteilchen, aus denen Materie besteht und erklärte, wie man versucht sie nachzuweisen. Das weckte sofort mein Interesse, und obwohl ich das meiste von dem, was er sagte, nicht verstand, wusste ich, dass es sich lohnt, diesen Fragen nachzugehen. Glücklicherweise dachten meine Eltern nicht in diesen typischen Geschlechterstereotypen. Sie drängten mich weder zur Physik, noch hinderten sie mich daran, dieses Studienfach zu wählen. Es war mein eigener Wunsch, Physikerin zu werden. Also ging ich nach Wales, wo ich an der Universität Cardiff Astrophysik studierte. Mein Masterjahr verbrachte ich in London und studierte Teilchenphysik am University College London. Für meine Promotion habe ich eine großartige Gelegenheit gefunden, in Deutschland die Forschung zu betreiben, die mir am Herzen liegt. Deshalb bin ich hier an der FAU, um in Theoretischer Physik zu promovieren.“
Die FAU ist das beste Forschungsumfeld für mich
„Durch die Teilnahme an einem Seminar über Schleifenquantengravitation wurde ich auf die Gruppe an der FAU aufmerksam gemacht. Es ist ein starkes, aktives und sehr internationales Institut mit einem weltweit guten Ruf in meinem Fachgebiet. Und da ich die deutsche Exzellenz in der Forschung kenne, habe ich nicht gezögert, mich zu bewerben – und wurde angenommen! Die Stadt Erlangen selbst ist recht klein und studierendenfreundlich, sie bietet viel Natur und liegt nahe an größeren Städten wie Nürnberg. Die FAU bietet für mich die besten Voraussetzungen, um zu forschen und gleichzeitig das Leben zu genießen.“
Mein Arbeitsalltag
„Seit 2020, als ich mit meiner Promotion begonnen habe, arbeite ich wegen der Covid-Pandemie aus der Ferne in Tunis. Bislang besteht mein Tagesablauf aus dem Lesen von Publikationen, dem Durchführen von Berechnungen, Online-Meetings mit meinem Betreuer und Kolleginnen/Kollegen und dem Besuch von Seminaren, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Im Durchschnitt bin ich acht Stunden am Tag beschäftigt, aber je nach Arbeitsanfall kann es mehr oder weniger sein. Das Einzige, worauf ich großen Wert lege, ist, dass ich sonntags frei habe, um mich vor dem Beginn der neuen Woche auszuruhen und zu erholen.“
FAU-Unterstützung auch aus der Ferne
„Ich bin dankbar, dass ich die Unterstützung und das Verständnis meines Betreuers hatte, als ich mein erstes Jahr an der FAU von Tunesien aus beginnen musste. Trotz der Pandemie ermöglichten mir die wöchentlichen Seminare und Journal Clubs über Zoom, am Leben der Abteilung teilzunehmen und mich weniger isoliert vom Rest der Gruppe zu fühlen. Außerdem sind meine Kolleg/-innen in der Quantengravitationsgruppe sehr freundlich und bemüht, internationalen Mitgliedern beim Einleben in Deutschland zu helfen. Ganz zu schweigen davon, dass ich finanzielle Unterstützung erhalte, da ich einen Vertrag als wissenschaftliche Mitarbeiterin vom Fachbereich Physik erhalten habe.“
In meiner Freizeit …
„… praktiziere ich die japanische Teezeremonie ‚Sado‘, die eine großartige Möglichkeit ist, präsent zu sein und meinen Geist zu schärfen, wenn ich nicht arbeite. Ich bin fasziniert von der japanischen Kultur und dem Zen-Buddhismus.“
Was mich an meiner wissenschaftlichen Arbeit reizt
„Ich beschäftige mich derzeit mit der Quantengravitation (QG), die in der aktuellen theoretischen Physik eine Spitzenstellung einnimmt. Die QG kombiniert die Schwerkraft mit der Quantenmechanik. Die Quantenmechanik arbeitet im mikroskopischen Bereich, während sich die allgemeine Relativitätstheorie mit dem makroskopischen Bereich befasst. Eine gültige QG-Theorie ist erforderlich, um zu verstehen, was bei Singularitäten wie schwarzen Löchern oder dem Urknall geschieht. Es gibt viele Theorien der Quantengravitation, darunter die bekanntesten,
nämlich die Stringtheorie und die Schleifenquantengravitation. Derzeit besteht die größte Herausforderung darin, Experimente zu konzipieren, um ihre Gültigkeit zu testen. Dies ist eine faszinierende Zeit für uns, um unsere experimentellen Grenzen zu erweitern und aufregende neue Instrumente zu entwickeln, die zweifellos unsere Technologie voranbringen und der gesamten Gesellschaft zugutekommen werden. Obwohl die Theoretische
Physik – wie der Name schon sagt – theoretisch ist, legt sie den Grundstein für neue Technologien und hat langfristig einen großen Einfluss auf die Wissenschaft, selbst wenn das erst in hundert Jahren relevant ist!“
Überwindung der Hürden
„Ich habe zwei Lernbehinderungen: Dysgraphie, also die Schwierigkeit leserlich zu schreiben und zu buchstabieren, und eine Raum-Zeit-Störung, die mir die Wahrnehmung und Verarbeitung von Raum und Zeit erschwert. Diese Hürden haben mir die Wahl des Faches Physik nicht gerade erleichtert. Doch mit der richtigen Einstellung, Motivation und vor allem der richtigen Arbeitsmethode, also die richtigen Werkzeuge zu finden, zu üben und bei Bedarf Hilfe zu suchen, war dies möglich.“
Meine Karrierepläne:
„Ich möchte meine Promotion abschließen und meine akademische Laufbahn fortsetzen, indem ich eine Postdoc-Stelle antrete und dann hoffentlich eine Festanstellung erhalte – vielleicht in Japan!“
Mein Rat für Studentinnen, die ein MINT-Fach in Betracht ziehen:
„Wenn ihr euch für einen Bereich der MINT-Fächer begeistert und neugierig seid, solltet ihr diesen Weg verfolgen. Lasst euch nicht durch Noten oder Leute, die euch sagen, dass ihr es nicht könnt, entmutigen. Mit dem richtigen Plan ist alles möglich, und die Wahl einer MINT-Laufbahn ist großartig, da sie dir eine Reihe von übertragbaren Fähigkeiten vermittelt, die du in jedem späteren Beruf nutzen kannst.“
Ein „Wow-Moment“
„Die Gelegenheit, im nationalen tunesischen Radio über Theoretische Physik zu sprechen, war einer der Höhepunkte meiner bisherigen Karriere. Ich hatte das Gefühl, endlich all die spannenden Dinge, die ich gelernt habe, mit anderen teilen zu können und die Menschen zu ermutigen, sich mit Physik zu beschäftigen.“
Eine prägende Erfahrung …
„… war, als ich an einem Seminar am Isaac Newton Institute der Universität Cambridge teilnahm und feststellte, dass ich die einzige anwesende Frau war, zusammen mit zwei Forschern, die ihre Arbeit präsentierten. Das war ein deutliches Geschlechtergefälle, das mir das Problem der mangelnden Vielfalt in der Theoretischen Physik vor Augen führte. Nach dieser Erfahrung bin ich nun motiviert, meine Stimme zu erheben und junge Frauen zu erreichen, um ihre Neugier zu wecken und ihnen hoffentlich zu helfen, einen Weg in die Physik in Betracht zu ziehen.“
Dieser Artikel ist Teil der Broschüre „The Sky is the Limit“
Facettenreich, inspirierend und innovativ werden in der Broschüre „The Sky is the Limit“ MINT-Wissenschaftlerinnen aus der Technischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der FAU in abwechslungsreichen Interviews vorgestellt.
Weitere veröffentlichte Interviews können Sie online auf der Seite Research nachlesen.
Broschüre „The Sky is the Limit — MINT-Wissenschaftlerinnen an der FAU“ zum Download
Die Publikation entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen dem GRK 2423 FRASCAL und dem Büro für Gender und Diversity. Die Interviews führte Dr. Susanne Stemmler.