Big Data in der Urzeit: Wolfgang Kießling ist der meistzitierte Paläobiologe Deutschlands
Was uns Fossilien über die Zukunft verraten
Die Kartons stehen noch unausgepackt in der Ecke seines Büros in der Erlanger Loewenichstraße. Gerade erst ist Wolfgang Kiessling von einer Exkursion aus Süditalien zurückgekehrt, gemeinsam mit drei Erlanger Studentinnen und zwei Kollegen der Universität Modena hat er dort Korallenriffe untersucht. Tauchen mussten die Paläobiologen dafür nicht, aufgrund tektonischer Verwerfungen liegen die Riffe seit 30 Millionen Jahren trocken. Dennoch geben sie einiges preis – etwa, ob ihnen Sedimentablagerungen das Leben schwer gemacht haben, ob ihre Kalkhülle durch saures Wasser angegriffen wurde oder ob sie von Krankheiten befallen waren, ähnlich der Bleiche, die dem Great Barrier Reef vor der Küste Australiens aktuell stark zusetzt. „Anhand der Wachstumslinien können wir solche Ereignisse gut rekonstruieren“, sagt Kiessling. „Dafür schneiden wir einen Teil der Proben auf, der Rest wird Teil unserer umfangreichen Fossiliensammlung.“
Wolfgang Kießling liebt solche Forschungsreisen, er ist auf der ganzen Welt unterwegs gewesen – im Oman, in der Antarktis, auf den Philippinen, in Ägypten und Australien. „Die Paläoforschung ist heute gut vernetzt und immer stärker durch Arbeitsteilung charakterisiert – man kann auch vom heimischen Schreibtisch aus viel erreichen“, sagt er. Kießlings Sache ist das jedoch nicht, er bezeichnet sich als „Zwitterwesen“: aufgewachsen in der traditionellen Paläontologie, die davon lebt, Proben zu sammeln, aber auch Datenmensch, der den Computer nutzt, um die Folgen von Klimaveränderungen für Ökosysteme, vor allem marine, zu simulieren. Mit dieser Expertise ist Kießling heute der meistzitierte Paläobiologe Deutschlands und einer der Top-Forscher der Welt in seinem Fach.
Repräsentative Daten für universale Muster
Dass es etwas mit Naturforschung werden sollte, stand für den gebürtigen Coburger früh fest. Er ist auf dem Lande aufgewachsen, hat als Kind Sterne mit dem Teleskop beobachtet, die Dinosaurier haben ihn ebenfalls interessiert, „so wie jedes Kind“, sagt er. Entschieden hat er sich für die Geowissenschaften, „da muss man keine Tiere zerschnippeln“. Geld verdienen wollte er auch, deshalb hätte er sich eine Karriere in der Mineralölindustrie vorstellen können, aber da wusste er noch nichts von der Kalkalge. Um die nämlich ging es in seiner ersten Vorlesung, die er an der FAU hörte. „Ich war fasziniert von diesen Lebewesen – zum einen davon, was sie leisten, zum anderen aber auch davon, was sie uns selbst nach Millionen Jahren noch verraten.“
Kießling war rasch klar, dass diese Preisgabe einer neuen Systematik bedurfte, einer weitaus besseren Datenbasis, als sie Mitte der 90er Jahre existierte: „Zu dieser Zeit widmeten sich die Paläontologen vorwiegend Einzelbeschreibungen von Fossilien, Big Data war noch kein Thema.“ Sein Postdoc-Studium absolvierte er in Chicago, lernte dort, wie man Proben computergestützt standardisiert und Untersuchungsgebiete so auswählt, dass die Ergebnisse statistisch repräsentativ sind. „Eine einzelne Koralle kann uns etwas über ihr Schicksal verraten“, sagt Kießling. „Aber wenn wir daraus universale Muster der Biodiversität ableiten wollen, brauchen wir viele Korallen von möglichst vielen Standorten aus möglichst vielen Phasen der Erdgeschichte.“ Gerade frisch promoviert, hat Kießling die Datenbank PaleoReefs aufgebaut, „noch offline, Sie können sich vorstellen, wie umständlich die Pflege war.“ Später war er Gründungsmitglied der Paleobiology Database, der heute größten Datenbank zur systematischen Erfassung ausgestorbener Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen mit aktuell einer halben Million klassifizierter Namen. Kießling spricht von „unserer Datenbank“ – gut ein Fünftel der Einträge stammt aus der Erlanger Forschung.
Tiere wandern dorthin, wo es kühler ist
Je besser die Datenbasis, umso zuverlässiger kann analysiert werden, welche Ereignisse zu Wachstum, Absterben und Migration geführt haben. Mediale Aufmerksamkeit bekommt Kießling besonders dann, wenn es um das Massenaussterben bestimmter Arten geht. „Dabei hat es solche Phänomene in der Historie nur wenige gegeben, wenngleich jeweils mit gravierenden Folgen“, sagt er. Die Dinosaurier fallen einem da sicher zuerst ein, es gilt heute als wahrscheinlich, dass ein massiver Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren dafür verantwortlich war. Nicht minder dramatisch war ein extremer Vulkanismus vor rund 200 Millionen Jahren, als in sehr kurzer Zeit gigantische Lavamassen aus der Erde strömten und eine Fläche von elf Millionen Quadratkilometern bedeckten – dort, wo heute der Atlantik liegt. „Dieser Verlust an Lebensraum war sicherlich schon eine Katastrophe, aber das weitaus größere Problem war die riesige Menge an Kohlendioxid, die mit der Lava freigesetzt wurde“, erklärt Kiessling. „Der Treibhauseffekt wurde angeheizt, die Meerestemperatur stieg um zehn Grad an, zugleich wurde das Wasser sauer. Zwei Drittel aller Arten verschwanden von der Erde.“
„Selbst kleinste Temperaturänderungen haben gravierende Folgen. Der Spielraum ist sehr klein.“ Prof. Dr. Wolfgang Kießling, Lehrstuhl für Paläoumwelt am GeoZentrum Nordbayern
Zwar lassen sich weder Meteoriteneinschläge von Vulkanausbrüche verhindern, doch die Erforschung der Auswirkungen von Klimaveränderungen auf das Leben von Pflanzen in der Vergangenheit kann uns wertvolle Hinweise auf die Zukunft liefern. „Gerade an den Korallen können wir sehen, dass selbst kleinste Temperaturänderungen gravierende Folgen haben“, sagt Kießling. „Der Spielraum ist sehr klein.“ Steigende Meerestemperaturen führen dazu, dass Tiere in nördlichere Breiten abwandern – doch hier gibt es zahlreiche Barrieren: „In geschlossenen Systemen, etwa im Mittelmeer, ist dann einfach Schluss. Fische sitzen dann in der Falle, weil sie nicht zurückkönnen.“ Auch der Migration von Korallenriffen sind enge Grenzen gesetzt: Sie benötigen viel Licht, was ihr Überleben in höheren Breiten ebenso unmöglich macht wie in größeren Tiefen.
„Diese Wanderungsbewegungen beobachten wir seit Jahren, und sie werden weiter zunehmen“, sagt Kießling. Daran wird auch die Zielsetzung der EU nichts ändern, bis zum Jahr 2050 die Emissionen von Treibhausgasen auf Null zu reduzieren. „Das System reagiert einfach zu träge.“ Wichtig sei es deshalb, Migrationskorridore zu schaffen, etwa mit der Einrichtung zusammenhängender Meeresschutzgebiete. Und als Schutz vor dem zwangsläufig steigenden Meeresspiegel schlägt Kießling vor, Mangrovenwälder zu pflegen und zu erweitern und die bestehenden Korallenriffe so gut wie möglich zu schützen. Solche „Nature Based Solutions“ seien nicht nur preiswerter, sondern auch effektiver als künstliche Baumaßnahmen.
KI und Citizen Science zusammenbringen
Im Februar hat das IPCC, das Intergovernmental Panel on Climate Change, auch Weltklimarat genannt, seinen sechsten Sachstandsbericht veröffentlicht. Kießling war einer der Hauptautoren, „das hat mich drei Jahre meines Lebens gekostet“, sagt er. Bis ein solcher Bericht mit einem Umfang von über 3000 Seiten steht, sind unvorstellbar viel Koordinationsarbeit und akribische Recherche nötig: „Manchmal fasst man 30 Studien in einem Satz zusammen, und selbst um dessen Formulierung wird hart gerungen.“ Jeder einzelne Punkt wird von den Beteiligten intensiv diskutiert, der Text wird dreimal extern begutachtet, später kommen dann noch tausende Kommentare der Regierungen hinzu. „Es ist in jedem Fall eine interessante Erfahrung, weil wir im Gegensatz zu unserer Forschungsarbeit keine neuen Erkenntnisse liefern, sondern das vorhandene Wissen aus jedem Teilgebiet sammeln und bewerten.“
Noch einmal wird Kießling diese Herkulesaufgabe im Auftrag der Vereinten Nationen nicht übernehmen, dazu ist er zu sehr Forscher. Was ihn aktuell umtreibt, ist die Frage, wie sich aus den Daten der hyperthermischen Ereignisse der Vergangenheit, die sich zumeist über lange Perioden erstrecken, zuverlässige Vorhersagen für überschaubare Zeiträume modellieren lassen. Für dieses Skalierungsvorhaben stellt er gerade ein Team für ein größeres Forschungsprojekt zusammen. Und weil am Ende alles von den Daten abhängt, will Kießling, ganz Pionier seines Fachs, hier bald Künstliche Intelligenz und Bürgerwissenschaften zusammenbringen: An seinem Lehrstuhl wird eine App entwickelt, die es dem Nutzer ermöglichen soll, in Echtzeit Informationen über fotografierte Fossilien zu erhalten. Solche Apps gibt es beispielsweise schon für die Bestimmung einheimischer Pflanzen „Beide Seiten werden davon profitieren“, erklärt Kießling. „Die Anwender erweitern ihr Wissen, wir Forscher unseren Pool an Primärdaten.“
Und dann findet er endlich die Zeit, die Kartons aus Italien auszupacken.
Research in Bavaria
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Research in Bavaria www.research-in-bavaria.de.
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