Für mich ist der Mensch die faszinierendste Maschine der Welt
Wir präsentieren in einer Folge von 22 Beiträgen ein Panorama an FAU-Wissenschaftlerinnen verschiedener Qualifikationsstufen und akademischer Positionen, von der Studentin bis zur W3-Professorin. Als Role Models motivieren die Forscherinnen aus dem MINT-Bereich durch ihre individuellen Werdegänge Nachwuchswissenschaftlerinnen für eine akademische Laufbahn, denn sie geben interessante Einblicke in ihren beruflichen Werdegang. Dabei lernen wir die MINT-Expertinnen auch von ihrer privaten Seite kennen.
Juniorprofessorin Anne Koelewijn: „Für mich ist der Mensch die faszinierendste Maschine der Welt“
Prof. Dr. Anne Koelewijn hat einen Bachelor in Luft- und Raumfahrttechnik. Ihren Master sowie ihren Doktor machte sie im Fach Maschinenbau. Seit 2019 – damals war sie 26 Jahre alt – ist die gebürtige Niederländerin Juniorprofessorin am Lehrstuhl für Maschinelles Lernen und Datenanalytik der FAU. Mit ihren 28 Jahren hat sie bereits in den Niederlanden, den USA, der Schweiz und Deutschland geforscht. Dass sie wesentlich jünger als ihre Kolleginnen und Kollegen ist, aber auch als viele ihrer Studierenden und Doktorandinnen und Doktoranden, macht sie zur Außenseiterin. Doch das ist nichts Neues für sie.
Mit 15 Jahren Abitur gemacht
Aufgewachsen nahe Amsterdam als Tochter eines Mathematik-Ehepaars, schloss Anne Koelewijn mit gerade einmal 15 Jahren das Gymnasium ab. „Mein Vorteil war stets, dass ich alles schnell aufnehme und verstehe“, beschreibt sie ihre Gabe, die übrigens auch ihr Bruder besitze. Der aber sei nicht so fleißig wie sie gewesen, lacht sie. Mit 18 hatte sie ihren Bachelor und mit 21 ihren Master – beides an der Technischen Universität Delft absolviert. Es folgte ein USA-Aufenthalt an der Cleveland State University in Ohio, wo sie nach vier Jahren ihren Doktor-Ingenieur erhielt. Daran schloss sich eine elfmonatige Postdoc-Zeit im Biorobotics-Labor der schweizerischen Polytechnischen Hochschule École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) an.
Über den amerikanischen Doktorvater zur FAU
Den Kontakten ihres amerikanischen Doktorvaters zu Adidas hat sie es zu verdanken, dass sie an die FAU kam, denn der Sportartikelhersteller sponsert die Juniorprofessur, auf die sie sich bewarb und die sie nun innehat. Am Institut leitet sie die Gruppe „Biomechanical Motion Analysis and Creation (BioMAC)“ und erforscht, wie sich Menschen bewegen. „Es ist ziemlich cool zu sehen, wie Lebewesen so viel besser funktionieren als alles, was von Menschenhand geschaffen wurde, wie etwa Roboter. Für mich ist der Mensch die faszinierendste Maschine der Welt. Ihre Bewegungseffizienz ist unübertroffen.“ Auf ihrem Fachgebiet untersucht und berechnet die Wissenschaftlerin Bewegungsabläufe für die Medizintechnik, aber auch für die Sportschuh-Entwicklung. „Ich denke, wenn wir erst einmal verstehen, warum wir so gehen, wie wir gehen, können wir Technologien wie Robotik, Prothetik und Orthesen erheblich voranbringen und auch andere menschliche Bewegungen, etwa im Sport, verbessern“, sagt die Professorin und lacht: „Ich mache heute inhaltlich eine Mischung aus den aktuellen Tätigkeitsfeldern meines Vaters – Mathematik – und meiner Mutter: Bewegungswissenschaften!“
„Frausein und Jungsein im MINT-Fach ist schwierig“
Die Eltern waren es auch, die sie stets unterstützten, auch darin, schon in jungen Jahren allein ins Ausland zu gehen. Ihr Alter bedeutete für Koelewijn stets Fluch und Segen zugleich. Sie erinnert sich an unschöne Vorfälle mit männlichen Studierenden in der Schweiz. „Einmal stellte ein von mir betreuter Student in meinem Beisein einem Kommilitonen und nicht mir eine Fachfrage, weil er mich nicht als Vorgesetzte akzeptierte.“ Das war kein Einzelfall. Frausein und Jungsein im MINT-Bereich erlebt sie als schwierig. Gleichaltrige studieren meistens noch und die älteren Kollegen haben oft Familie. Dennoch hat die 28-Jährige unter den Professorinnen und Professoren ebenso Freunde gefunden wie unter den Studierenden der FAU. Und als Sportlerin in einem Lacrosse-Team („eine Mischung aus Tennis und Feldhockey“) ist sie ebenfalls gut beschäftigt. Anne Koelewijns Zeitmanagement sieht wie folgt aus: „acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, zwei Stunden Sport und sechs Stunden Freizeit.“ Wie gesagt, das funktioniert bei ihr vor allem wegen ihrer raschen Auffassungsgabe, wie sie erklärt.
Künftigen MINT-Wissenschaftlerinnen rät sie:
„Findet unterstützende Vorgesetzte. Ich würde sagen, dass dies viel wichtiger ist, als die Suche nach dem besten Thema. Solange das Thema einigermaßen in eurem Interessensgebiet liegt, entscheidet euch dafür. Hauptsache, der Betreuer oder die Betreuerin ist gut. Und sucht euch idealerweise jemanden, der oder die auch Frauen erfolgreich betreut hat. Sprecht also mit derzeitigen Doktorandinnen und Doktoranden oder Alumni und schaut, wo diese, insbesondere Frauen, gelandet sind.“ Ihre W1-Professur, die sie auch deshalb erhielt, weil sie in kürzester Zeit promoviert und ihren Postdoc abgeschlossen hatte, ist nach sechs Jahren das Äquivalent zur Habilitation. Dann kann ihre Laufbahn mit Anfang 30 unbefristet weitergehen mit einer W2- oder W3-Professur. „Ich kann mir gut vorstellen, entweder an der FAU zu bleiben, oder an eine Universität in wärmeren Gefilden zu gehen, aber am liebsten in Europa“, sagt die Wahl-Erlangerin. Ihrer privaten Zukunft sieht sie eher gelassen entgegen. „Wenn ich eines Tages eine Festanstellung im akademischen Bereich habe, bin ich immer noch jung genug, um mich für eine Familiengründung zu entscheiden.“
„Die Unterscheidung Männer- und Frauenberufe gehört abgeschafft“
Dass Frauen in MINT-Fächern als etwas Besonderes angesehen werden, nervt die junge Wissenschaftlerin. „Ich denke, dass es wichtig ist, nicht nur Frauen für MINT-Berufe zu gewinnen, sondern auch Männer für die eher klassisch weiblichen Berufe. Überhaupt sollte man sich mehr darauf konzentrieren, Wert und Respekt für Berufe zu schaffen, die traditionell eher von Frauen ausgeübt werden, so dass die Vorstellung, Männerberufe seien besser als Frauenberufe, endlich ad acta gelegt wird.“ Und wenn sie selbst eines Tages umsatteln wollte, welche Fachrichtung wäre das? „Geschichte und Literatur“, platzt es aus ihr heraus. Auch Politik und Nachhaltigkeit sind ihr wichtig. So isst Anne Koelewijn nur selten Fleisch und fliegt nicht etwa bequem von Nürnberg nach Amsterdam, um ihre Familie zu besuchen, sondern nimmt den Zug.
Dieser Artikel ist Teil der Broschüre „The Sky is the Limit“
Facettenreich, inspirierend und innovativ werden in der Broschüre „The Sky is the Limit“ MINT-Wissenschaftlerinnen aus der Technischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der FAU in abwechslungsreichen Interviews vorgestellt.
Weitere veröffentlichte Interviews können Sie online auf der Seite Research nachlesen.
Broschüre „The Sky is the Limit — MINT-Wissenschaftlerinnen an der FAU“ zum Download
Die Publikation entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen dem GRK 2423 FRASCAL und dem Büro für Gender und Diversity. Die Interviews führte Dr. Susanne Stemmler.