Neandertaler des Nordens
Flexible Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen
Ob Neandertaler gut an das Leben in der Kälte angepasst waren oder doch eher gemäßigte Umweltbedingungen bevorzugten, hat ein multidisziplinäres Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der FAU, der Leuphana-Universität Lüneburg, des Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik, des Landesmuseums Hannover, des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege und weiterer Partnereinrichtungen nun in Norddeutschland untersucht. Anhand von Untersuchungen in Lichtenberg im Wendland (Niedersachsen) konnten die Forschenden belegen, dass Neandertaler während der letzten Eiszeit auch in Kaltphasen ihre nördlichen Siedlungsgebiete aufsuchten – wenn auch vorzugsweise in den Sommermonaten.
Waren Neandertaler wirklich so gut an ein Leben in der Kälte angepasst, wie bisher angenommen, oder bevorzugten sie im Verlauf der letzten Eiszeit eher gemäßigte Umweltbedingungen? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, Neandertalerfundstätten an der nördlichen Peripherie ihres Verbreitungsgebietes zu untersuchen. Denn hier waren, vor allem durch wiederholte Eisvorstöße aus Skandinavien, Umweltschwankungen am deutlichsten zu spüren. Eine für solche Untersuchungen besonders geeignete Region ist Norddeutschland mit ihren zahlreichen überlieferten Fundstätten nördlicher Neandertaler.
Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, der Universität Erlangen-Nürnberg, der Leuphana-Universität Lüneburg, des Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik, des Landesmuseums Hannover, des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege und weiterer Partnereinrichtungen haben in einer aktuellen Studie nun die Hinterlassenschaften von Neandertalern an einem einstigen Seeufer in Lichtenberg im Wendland (Niedersachsen) untersucht. Einem integrativen Forschungsansatz folgend hat das Team Analysemethoden aus der Archäologie, der Lumineszenzdatierung, der Sedimentologie, der Mikromorphologie, sowie die Analysen von Pollen und Phytolithen miteinander kombiniert, um die Beziehung zwischen der menschlichen Anwesenheit im Norden und den sich verändernden Umweltbedingungen im Detail zu erforschen.
Ein Fenster in die Umweltgeschichte
„Archäologische Grabungen sind auch immer ein Fenster in die Umweltgeschichte“, sagt Michael Hein, Geograph am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Anhand der Sedimente und der enthaltenen Pollenkörner können wir die damaligen Vegetations- und Umweltbedingungen sehr gut nachvollziehen. Dafür ist auch immer eine möglichst genaue Datierung wichtig, die jedoch im nördlichen Mitteleuropa für viele klimatische Phasen der letzten Eiszeit noch fehlt.“ Die Erhebung von Umweltinformationen und unabhängigen Datierungen ist gleichermaßen für die Archäologie und die Paläoumweltforschung von großem Interesse.
„In Lichtenberg ist es uns nun unter anderem gelungen, das Ende einer ausgeprägten Warmphase – des so genannten Brörup Interstadial – innerhalb dieser letzten Eiszeit recht genau auf 90.000 Jahre zu datieren“, ergänzt Hein. „Damit hätte sich die damalige Abkühlung auf dem Kontinent etwa zeitgleich vollzogen mit der starken Klimaveränderung, die im grönländischen Eis und im Nordatlantik bereits nachgewiesen ist. Diese scheinbar direkte klimatische Kopplung in dieser Zeit war bisher für Norddeutschland nur vermutet worden.“
Besiedlung nördlicher Gebiete auch in Kaltphasen
Die Studie ergab außerdem, dass Neandertaler vor etwa 90.000 Jahren ein leicht bewaldetes Seeufer in einem relativ gemäßigten Klimaabschnitt besiedelten. Die Steingeräte des Lagerplatzes zeugen von vielfältigen Tätigkeiten, wie etwa der Holzbearbeitung und der Verarbeitung von Pflanzen. Bereits zwischen 1987 und 1994 wurde vom Landesmuseum Hannover in Lichtenberg eine Fundstätte der so genannten Keilmessergruppen – speziell zugeschlagener Feuersteinmesser – ausgegraben.
In den Ausgrabungen liegen die Schichten dieses einstigen Lagerplatzes oberhalb des Seeuferlagerplatzes, das einem gemäßigten Klimaabschnitt zugeordnet ist und datieren in eine Zeit von vor etwa 70.000 Jahren, als das erste Kältemaximum der letzten Eiszeit begann. Die Forschenden konnten somit belegen, dass Neandertaler tatsächlich auch während der Kaltphasen die nördlichen Regionen besiedelt hatten.
Flexible Anpassung an Umweltbedingungen
„Veränderungen bei den Steingeräten deuten darauf hin, dass Neandertaler sich flexibel an sich ändernde Umweltbedingungen angepasst haben“, sagt Marcel Weiß, Archäologe an der Universität Erlangen-Nürnberg. „In Lichtenberg konnten wir zeigen, dass sie von einer stark bewaldeten Umwelt der letzten Warmzeit, über die lichteren Wälder eines kalt-gemäßigten Klimaabschnittes zu Beginn der letzten Eiszeit bis hin zur kalten Tundra des ersten Kältemaximums die nördlichen Regionen Mitteleuropas immer wieder aufsuchten.“
Dabei zeigen die Steingeräte, vor allem Messer aus Feuerstein, dass es sich wohl um einen kurzen Jagdaufenthalt gehandelt haben könnte. Hinweise von anderen Fundstätten aus derselben Zeitperiode deuten darauf hin, dass Neandertaler den Norden während der Kaltphasen wohl hauptsächlich während der Sommermonate aufgesucht hatten.
Beitragende Institutionen:
MPI EVA Leipzig, FAU Erlangen-Nürnberg, Leuphana-Universität Lüneburg, LIAG Hannover, LMU München, Universität Leipzig, Aberystwyth University, Landesmuseum Hannover, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege
3D und Augmented Reality
Auf Github können Sie sich die Grabungsschnitte mit den Fundverteilungen als 3D Modelle, sowie in Augmented Reality auf dem Smartphone anschauen. Achtung: gegebenenfalls lange Ladezeiten!