Theaterkultur aus einer anderen Zeit

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(Bild: SiwaBudda/shutterstock)

Vielfältiger, heterogener, bunter und lebendiger: Wer über die Theaterkultur der Frühen Neuzeit im Alten Reich nachdenkt, muss sich von heute vertrauten Vorstellungen lösen. Das Theater damals war ein anderes, als wir es seit dem bildungsbürgerlichen Theater des späten 18. Jahrhunderts gewohnt sind.

Weder vom künstlerischen Niveau noch von den Repertoires oder den Aufführungssituationen ist das Theater damals vergleichbar mit dem, wie wir es heute kennen“, sagt Prof. Dr. Jörg Krämer. Der Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur mit systematischem Schwerpunkt am Department Germanistik und Komparatistik weiter: „Die Interaktion zwischen Publikum und Darstellenden war damals sehr viel ausgeprägter als heute. Das Publikum hat die Schauspieler/innen mitunter sogar unterbrochen. Auch darüber hinaus war die Theaterkultur zwischen etwa 1600 und 1800 in vielerlei Hinsicht völlig anders. „Sie ist durch eine enorme Vielfalt und Heterogenität gekennzeichnet“, so der FAU-Wissenschaftler, dessen Forschungsschwerpunkte in der deutschen Literatur, Musik und Theaterkultur des 17. bis 19. Jahrhunderts liegen. Meist waren die Aufführungen von langer Dauer und äußerst vielteilig. Da reihte sich Tragisches an Komisches, unterbrochen von akrobatischen Einlagen. Ein weiterer Hauptunterschied: Statt professionellen Schauspieler/innen standen meist Laien (beispielsweise Handwerker/innen) auf der Bühne.

Historisches Bild eines Theaterstücks
Theaterstück im Fechthaus. (Bild: Angenehme Bilder-Lust, Der Lieben Jugend zur Ergötzung also eingerichtet. Nürnberg: Peter Conrad Monath ca. 1750. Exemplar der UB Erlangen-Nürnberg)

Ebenso vielfältig waren die verschiedenen Theaterformen. Während der berühmte Nürnberger Meistersinger und Dramatiker Hans Sachs auch biblische Stoffe als Grundlage für kleine Theaterszenen wählte, zogen die Metzger beim so genannten „Schembartlauf“ durch Nürnberg. „Diese eher wilde Mischform aus Prozession, Tanz und Theater mit ihren immer wiederkehrenden kleine Aufführungen erinnert an das, was wir heute als Performance-Artkennen“, sagt Jörg Krämer. Doch nicht nur wegen Hans Sachs und seinen Meistersingern gilt der Raum um Nürnberg als eines der bedeutendsten Zentren des Theaters der Frühen Neuzeit. Nürnberg war die erste deutschsprachige Stadt, die 1628 ein eigenes kommunales Theatergebäude errichtete: das „Fechthaus“ auf der Insel Schütt. Es blieb nicht der einzige Spielort in Nürnberg. 1668 entstand mit dem „Nachtkomödienhaus“ am Lorenzer Platz ein weiteres Theatergebäude. Hinzu kamen Gasthöfe, Kirchen, Schulen oder die Nürnbergische Universität in Altdorf.

Orte der Zerstreuung

„Das Theater im Alten Reich hatte einen ganz anderen Stellenwert“, betont PD Dr. Victoria Gutsche. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur weiter: „Das Theater war einer der wenigen Orte, der Zerstreuung bot.“ Zudem diente das Theater der Frühen Neuzeit für die Gesellschaft als eine Art Ventil. Es bot beispielsweise im Fasching Menschen die Möglichkeit, für einen Moment alle Normen beiseitezuschieben und über die Stränge zu schlagen. Um etwas anderes ging es beim Schultheater, das im Alten Reich fest im pädagogischen Programm verankert gewesen ist. Die Schüler übten dabei Texte auswendig zu lernen, das Auftreten oder sich mit historischen und biblischen Stoffen auseinander zu setzen. Ein wenig von diesem Gedanken hat bis heute überdauert, wenn Schulen etwa Theater-AGs anbieten.

Außendarstellung und Reputation

Historisches Bild einer Bärenhatz.
Bärenhatz im Fechthaus. (Bild: wikipedia)

Doch auch in anderer Hinsicht ist die Theaterkultur der Frühen Neuzeit ein seltenes Erbe, das die deutsche Theaterlandschaft bis heute prägt. „Unsere Vielfalt an Theatern auch in kleineren Städten haben wir der damaligen Zeit zu verdanken. Für die Residenzstädte, Höfe und Handelsstädte im Alten Reich war es in Sachen Außendarstellung und Reputation wichtig, ein eigenes Theater zu haben“, so Victoria Gutsche. Eines hat sich allerdings geändert: Das Aufkommender Oper sorgte nach 1600 für einen Wandel in der Theaterpraxis. „Das Zusammenspiel von Gesang und Schauspiel war für Laien nicht mehr zu leisten. Es gab zunehmend Profis, die mit ihrer Art zuspielen deren schlichtere Formen des Theaters nach und nach verdrängt haben“, unterstreicht die FAU-Wissenschaftlerin. In Vergessenheit ist ihre Kunst jedoch nicht geraten. Dafür sorgt insbesondere auch das Team am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dirk Niefanger. „Die frühneuzeitliche Spielkultur wird in der Forschung bislang noch nicht adäquat abgebildet, weil sich der Blick doch vor allem auf kanonisierte Autor/innen und einige wenige Zentren richtet“, so Jörg Krämer. Das soll sich ändern. Durch die Forschungsarbeit am Lehrstuhl genauso wie durch internationalen und interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch. Ende März veranstaltete das Team eine internationale Tagung zum Thema in Nürnberg.

„Es ist wichtig, auch auf die Bedeutung des frühneuzeitlichen Theaters für die Gegenwart zu blicken. Denn das für uns heute gewohnte und zur Norm gewordene literarische Theater verliert wieder an Kraft“, betont der FAU-Wissenschaftler. „Es wird spannend, wie es sich jetzt womöglich wieder öffnen wird für eine neue Form von Praxis, die völlig anders funktioniert als das klassische Stadttheater und sich stattdessen am frühneuzeitlichen Theater orientiert –mit mehr Interaktion und Performance.“

von Michael Kniess


Titelbild
alexander Nr. 118

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