FAU-Forschende kritisieren „wissenschaftlichen Kolonialismus“ in der Paläontologie
„Reiche Staaten haben meist die Wissenshoheit“
Viele der weltweit gefundenen Fossilien befinden sich im Besitz westlicher Naturkundemuseen oder privater Sammlungen. Auch die Daten über Fossilienfunde und -ausgrabungen sind in reicheren Ländern gebündelt. Das kritisiert ein Forschungsteam um Nussaibah Raja-Schoob. Die Doktorandin am Lehrstuhl der Paläobiologie der FAU hat zusammen mit einer Kollegin vor Ort sowie Forschenden aus Großbritannien, Südafrika, Brasilien und Indien einen vielbeachteten Artikel in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Ecology & Evolution“ veröffentlicht.
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem brisanten Thema „wissenschaftlicher Kolonialismus“. Das Forschungsteam hat in seiner Studie gezeigt, dass 97 Prozent der in den vergangenen 30 Jahren gesammelten paläontologischen Daten von Forschenden in Nordamerika und Europa stammen. Das ergibt eine Auswertung der „Paleobiology Database“, einer öffentlich zugängigen Datenbank mit wissenschaftlichen Publikationen und der geografischen Lage von Fossilvorkommen, die von Fachleuten genutzt wird, um die Erdgeschichte zu erforschen.
Den Erkenntnissen des Forschungsteams zufolge spielen sozio-ökonomische Faktoren wie Bildung, Bruttoinlandsprodukt, politische Stabilität und das Beherrschen der englischen Sprache eine entscheidende Rolle bei der globalen Gewinnung und Verteilung von Fossilien-Daten. Das internationale Forschungsteam spricht von einem Macht-Ungleichgewicht und fordert mehr Zusammenarbeit.
Frau Raja-Schoob, wie kommt es, dass sich eine Paläontologin mit einem politischen Thema wie dem Wissenschaftskolonialismus auseinandersetzt?
Nussaiba Raja-Schoob: Mein wissenschaftlicher Background ist interdisziplinär. Meinen Bachelor habe ich im Fach Geographie am King‘s College London erworben, wo bereits Natur- und Sozialwissenschaften miteinander verknüpft wurden. Damals untersuchten wir die Auswirkungen von Naturkatastrophen auf die Politik und welchen Einfluss wiederum politische Entscheidungen auf Naturkatastrophen haben. Das Zusammenwirken von politischen und sozialen Faktoren einerseits und den Naturwissenschaften andererseits spiegelt sich eben auch in der Paläontologie wider. Und da gibt es große Ungleichheiten.
Worin bestehen die?
Raja-Schoob: Die Forschung gestaltet sich vielfach so, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus reicheren Ländern und Institutionen in ärmere Länder reisen und dort Ausgrabungen machen oder Erkenntnisse gewinnen, ohne die Expertinnen und Experten vor Ort oder die Interessen der dort lebenden Menschen miteinzubeziehen. Dies ist ein Problem in vielen Teilen der Welt außerhalb von Westeuropa und Nordamerika. Dazu muss man wissen, dass beispielsweise Südamerika oder Asien reich an Fossilien sind und es dort auch gut ausgebildete paläontologische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt.
Ist eine solche Forschung überhaupt ethisch?
Raja-Schoob: Das ist genau der Punkt. Aus den Veröffentlichungen westlicher Forschender geht oftmals nicht einmal hervor, ob es eine offizielle Erlaubnis für die Feldforschung in dem Land gab. Auch sehen finanzielle Fördermaßnahmen für wissenschaftliche Projekte vielfach nicht vor, dass Kooperationen mit einheimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Zeit und Geld kosten, stattfinden können. Schließlich besteht eine weitere Ungleichheit darin, dass die meisten Fachzeitschriften in englischer Sprache verfasst und Nicht-Muttersprachler/-innen diskriminieren, außerdem haben sie eine Bezahlschranke, so dass viele Forschende mit weniger Ressourcen keinen Zugang haben.
Sie haben das Augenmerk in Ihrer aktuellen Forschung auf die Datenhoheit gelegt und nicht darauf, wer Fossilien gefunden hat, besitzt oder wo sie sich heute befinden.
Raja-Schoob: Ja, in der Paläontologie wird viel mit Daten über frühere Funde gearbeitet. Auch wir am GeoZentrum Nordbayern betreiben im Großen und Ganzen datenbasierte Forschung. Die Feldforschung ist nur ein Teilbereich. Aber gerade die Erkenntnisse über Fossilien und damit über die Entwicklung von Leben auf der Erde, stammen zu 97 Prozent von westlichen Wissenschaftlern. Forschende, auch in Afrika und Asien, sind da ausgeschlossen. Es geht immer um den Vorrang von Wissensgewinnung. Das ist übrigens keineswegs eine Problematik allein in der Geologie. Auch in anderen Bereichen der Wissenschaft, etwa in der Biomedizin ist es so, dass die reichen Staaten die meiste Forschung betreiben und damit auch die Wissenshoheit haben.
Sie fordern eine stärkere Beteiligung einheimischer Paläontologinnen und Paläontologen sowie eine gleichberechtigte und nachhaltigere Zusammenarbeit mit ihnen. Ist das ein realistisches Ziel?
Raja-Schoob: Nehmen wir das Beispiel Brasilien: Dort florierte in den 1990er-Jahren der Fossilienschmuggel. Daraufhin wurden Gesetze verschärft und den Forschenden standen mehr Finanzmittel zur Verfügung. Die Tatsache, dass die Fossilien fortan im Lande blieben, machte einen großen Unterschied. In den meisten südamerikanischen Teams sind heutzutage keine ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten. Auch gibt es inzwischen eine Zusammenarbeit von Forschenden in Deutschland und Tansania, die gemeinsam eine Expedition durchgeführt haben. Auch wenn sich viele dort gefundene Fossilien noch immer in Deutschland befinden, ist die Kooperation ein Schritt in die richtige Richtung. Die Wissenschaft sollte sich zum Ziel setzen, dass Forschungspraktiken dekolonialisiert und offener gestaltet werden.
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DOI: 10.1038/s41559-021-01608-8
Publikation: Colonial history and global economics distort our understanding of deep-time biodiversity