Fußball und die Wissenschaft dahinter

Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann (Bild: Wolfgang Zink)
Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann (Bild: Wolfgang Zink)

Interview mit Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann

Noch immer ist Fußball der Lieblingssport der Deutschen – und wichtiger Forschungsgegenstand von Matthias Lochmann, Professor für Sport- und Bewegungsmedizin an der FAU: Er beschäftigt sich mit der Leistungsentwicklung im Breiten- und Leistungssport oder auch die Übertragung medizinischer Erkenntnisse und Methoden auf den Sport. Mit dem Programm Funiño ist er seit einigen Jahren dabei, den Nachwuchsfußball zu revolutionieren, außerdem berät er Bundesligavereine und nationale Verbände.

Können Sie bei Fußballspielen im TV überhaupt noch als Fan mitfiebern oder behalten Sie stets den Blick des Wissenschaftlers?

Tatsächlich kann ich den Fan und den Wissenschaftler in mir nicht wirklich trennen. Von klein auf habe ich mich für Sport und Fußball begeistert und schon früh begonnen, den Sport auch analytisch zu betrachten.

Wenn ich ein Spiel ansehe, frage ich mich immer, was könnte besser laufen und wie erreicht man. Der nächste Schritt ist dann zu hinterfragen, warum es den Vereinen oft nicht gelingt diese einfach erkennbaren Schwächen zu beseitigen. Die Ursache kann nur in Mängeln in der Analyse sowie in der trainingsmethodischen Ansteuerung der Trainingsziele liegen.

Wie sieht die Vorbereitung auf so ein großes Turnier in der Zeit einer Pandemie aus?

Die Vorbereitung auf dem Platz ist nur unwesentlich anders als vor der Pandemie. Natürlich bestehen die Hygienekonzepte, hier war der Fußball im letzten Jahr Vorreiter und man konnte in der Bundesliga damit schon Erfahrungen sammeln.

Jetzt sind es eher die logistischen Fragen, also wie kommt die Mannschaft auf den Platz, wie laufen die Interviews ab? Die Gefahr einer Infektion muss so umfassend wie möglich eingeschränkt werden. Bei den Spielern muss extrem auf Hygiene geachtet werden. Nicht auszudenken, wenn sich ein Spieler infizieren würde und dann die ganze Mannschaft betroffen wäre. Das könnte das Aus einer Nation bei der EM bedeuten. Also werden die Spieler stark isoliert und haben keinen Kontakt zum Rest der Welt.

Wäre es nicht sinnvoll, in kleineren Gruppen zu trainieren, um Infektionen und Infektionsketten zu vermeiden?

Ganz unabhängig von der Pandemie ist es im Sport immer sinnvoll in kleinen Gruppen zu trainieren, um den persönlichen Trainingszustand und die Empfänglichkeit für Trainingsreize zu berücksichtigen. Im Fußball gibt es außerdem verschiedene Positionen, auch hier wird in Gruppen trainiert, denn ein Stürmer braucht andere Einheiten als ein Mittelfeldspieler oder ein Torwart.

Wird das Prinzip der Individualisierung nur im Profisport berücksichtigt oder auch in Freizeitvereinen?

Paradoxerweise wird selbst im Profisport das Prinzip der Individualisierung viel zu wenig berücksichtigt, obwohl es schon über vierzig Jahre alt ist. Auch deswegen setze ich mich dafür ein, die Spielformen für den Jugendfußball zu überdenken. Es werden zu viele Kinder pro Altersklasse eingruppiert, was eine Individualisierung erschwert und dabei wäre sie hier noch wichtiger als im Profifußball.

Wenn eine Gruppe in ihrer Leistungsstruktur homogen ist, braucht sie ähnliche Trainingsreize. In einer Jugendmannschaft kann eine Trainerin oder ein Trainer mit kleinen Gruppen die Kinder leistungsgerecht zusammenführen und sie zum Beispiel drei gegen drei spielen lassen. Das macht auch den Kindern mehr Spaß. Denn wenn sie auf einem ähnlichen Niveau spielen, können sie sich viel mehr am Spiel beteiligen. Sonst gibt es oft den Fall, dass ein oder zwei Leistungsträger das Spiel allein machen und 80 Prozent der anderen Kinder den Ball kaum abbekommen. Es geht nicht nur um Leistungsentwicklung durch Selektion, sondern auch um Partizipation oder, wenn man diesen Gedanken etwas umformuliert, um Leistungs- und Werteorientierung.

Sie haben auch das Spielmodell Funiño weiterentwickelt. Können Sie das kurz vorstellen?

Funiño ist Akronym, das man Spanisch lesen kann als ‚Futbol a la medida de niño‘, was so viel heißt, wie ‚Fußball, maßgeschneidert auf die Bedürfnisse des Kindes‘. Das Spiel hat die Besonderheit, dass es vier Tore gibt und die Kinder immer drei gegen drei spielen. Außerdem gibt es eine Schusszone und man darf nur ein Tor erzielen, wenn man in dieser Zone ist, die etwa 6 Meter vom Tor entfernt. Diese Merkmale fördern auf Grund ihrer Wirkungsrichtung die Entwicklung der Spielintelligenz der Kinder.

Das Wunderbare ist, dass die von der FAU entwickelte Systematik des Spielbetriebes unter Einbeziehung von Funiño ein Instrument ist, um strukturelle Ungleichbehandlung zu beseitigen. Dies liegt daran, dass das System keine Ersatzbank kennt und jedem Kind eine hohe Anzahl an Ballkontakten, Torschüssen, Angriffen und Abwehrhandlungen ermöglicht. Es ist leider immer noch so, dass die soziale Herkunft den späteren Erfolg stark beeinflusst. Starke Anfangsleistung wird immer begünstigt und die ungleiche Förderung setzt sich weiter fort. Dem wird mit unserem Spielbetriebsmodell – zumindest im Fußball – entgegengewirkt.

Die Sozialkompetenz der Trainer*innen wird gesteigert, die Kinder bewegen sich mehr – das ist alles viel bedeutsamer als die Leistungszugewinne selbst.

Bauen Sie diese Ansätze auch in Ihre Trainerausbildung ein?

Die Spielintelligenz hat auch Einzug in die Trainingsausbildung gehalten, darum rücken nun andere Ansätze in den Vordergrund, die zum Beispiel aus der Psychologie kommen und eher die Sporthandlungen in den Vordergrund stellen. Ein solcher Ansatz ist das Spielintelligenzmodell mit seinen vier Phasen: Wahrnehmen, verstehen, entscheiden, ausführen. In der Forschung und Entwicklung geht es nun darum, Trainings- und Wettkampfkonzepte zu entwickeln, die diesen Phasen gerecht werden. Ich bin daher derzeit mit der Ausarbeitung der Kompetenzmodule zu diesem Ansatz beschäftigt und erprobe verschiedene Aspekte in der Sportlehrer- und Trainerausbildung hierzu. Es gibt inzwischen 850 Übungen, die den Spielintelligenzansatz in den Mittelpunkt rücken.

Worauf freuen Sie sich bei der EM?

Ich freue mich darauf, mit meinem Sohn die Spiele zu schauen und fachsimpeln zu können. Durch ihn habe ich gesehen, wo es Nachholbedarf gibt. Ich werde mit der Fach- und Fanbrille die Spieler und Trainer der anderen Nationen beobachten, denn gerade in Frankreich, England und Spanien wird die Sportwissenschaft stark in den Fußball einbezogen.

Das vollständige Interview können Sie nachlesen unter:

phil.fau.de/2021/06/10/fussball-und-die-wissenschaft-dahinter-interview-mit-prof-dr-dr-matthias-lochmann/