Mit Kant die Gegenwart verstehen

Emil Lask
Emil Lask war einer der wichtigsten Vertreter des Neo-Kantianismus. Sein Nachlass wird nun vom CENK erschlossen. (Foto: Universitätsarchiv Heidelberg)

Er entwickelte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland als Gegenbewegung zu den spekulativen Höhenflügen des Idealismus einerseits und zum von vielen als philosophisch unbefriedigend empfundenen Positivismus andererseits: Die Rede ist vom Neukantianismus. An der FAU befasst sich seit 2018 die „Forschungsstelle Neukantianismus“, das „Centre for Studies in Neo-Kantianism“ (CENK), mit den unter diesem Namen in die Philosophiegeschichte eingegangenen Denkansätzen. Angesiedelt ist sie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie von Prof. Dr. Andreas Funke.

Kein Wunder: Eine nicht zu übersehende Rolle kommt dem „Zurück zu Kant“-Denken in der Rechtsphilosophie zu. Bedeutende Rechtsphilosophen deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts sind von dieser Strömung geprägt. „Die jüngere Geschichte der Rechtsphilosophie und die gegenwärtigen Diskussionen können ohne Verständnis des Neukantianismus kaum angemessen begriffen werden“, betont Dr. Roberto Redaelli, Koordinator der Forschungsstelle. Diese dient der Vernetzung nationaler und internationaler Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet des allgemein-philosophischen und des rechtsphilosophischen Neukantianismus. Besondere Aufmerksamkeit widmet das CENK der Relevanz des Neukantianismus für die philosophischen Debatten der Gegenwart.

Bis heute spürbare Resonanz

Die Forschungstätigkeit konzentriert sich dabei vor allem auf die sogenannte Südwestdeutsche beziehungsweise Badener Schule. „Sie spielte im philosophischen und kulturellen Leben Deutschlands vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine wichtige Rolle“, sagt Dr. Redaelli. „Die Werke ihrer wichtigsten Vertreter, der Philosophen Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und Emil Lask, betreffen ganz unterschiedliche Themenfelder wie Erkenntnistheorie und Ethik, Wertlehre und Rechtsphilosophie oder Anthropologie und Ästhetik. Sie sind für uns eine unerschöpfliche Ideenquelle, und wir versuchen, deren Aktualität für gegenwärtige Fragestellungen hervorzuheben.“

Roberto Redaelli
Dr. Roberto Redaelli, Koordinator des Centre for Studies in Neo-Kantianism. (Bild: Roberto Redaelli)

Besonders eingehend befasst sich das CENK seit seinem Beginn mit dem Denken Emil Lasks, der von 1875 bis 1915 lebte. Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts wird dessen wissenschaftlicher Nachlass für eine kommentierte Edition erschlossen. „Emil Lask hat für die allgemeine Philosophie wie für die Rechtsphilosophie entscheidende Impulse geliefert“, unterstreicht Dr. Redaelli. „Beispielsweise konzipierte Emil Lask die Rechtswissenschaft als empirische Kulturwissenschaft. Diese Idee ist in der Rechtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts auf große und bis heute spürbare Resonanz gestoßen. Das Denken eines der bekanntesten deutschen Rechtsphilosophen, des Heidelberger Professors Gustav Radbruch, wurde entscheidend davon geprägt.“ Und dieses ist bis heute von Bedeutung: Gibt es ein Recht über dem Gesetz? In seiner berühmten „Radbruchschen Formel“ bejahte Gustav Radbruch diese Frage. Er ging davon aus, dass Recht ohne einen Bezug zur Gerechtigkeit gar nicht begriffen werden kann – und stützte sich dabei, wie Dr. Redaelli erläutert, unter anderem auf Emil Lask. Aber nicht nur das. „Lasks Werk hat sich mit seinen originellen theoretischen Vorschlägen vor allem im rein philosophischen Gebiet ausgewirkt und zur Entwicklung einer Logik der Philosophie und einer Urteilslehre geführt“, sagt der FAU-Wissenschaftler. In den letzten Jahrzehnten stehe sein Werk im Mittelpunkt einer regelrechten Renaissance: „Sie kommt nicht nur in den zahlreichen Studien zu Lasks Denken, sondern auch in der Übersetzung seiner Hauptwerke ins Französische, Englische und Italienische zum Ausdruck.“

Unerlässlich für die Philosophie

Das Editionsprojekt will Forschenden im Bereich der Philosophie und Rechtswissenschaft ein unverzichtbares Instrument zum Verständnis des Laskschen Denkens an die Hand geben. Dafür arbeiten Dr. Redaelli und Prof. Funke mit renommierten Forscherinnen und Forschern aus dem Ausland zusammen. Begleitet wird das Projekt zudem von einem internationalen Beirat. „Die Veröffentlichung seines wissenschaftlichen Briefwechsels sowie unveröffentlichter Materialien kann ein neues Licht auf das Werk dieses Philosophen werfen“, ist Dr. Redaelli überzeugt. Daneben versucht das CENK auch, einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung und zum Verständnis von Emil Lasks Denken zu leisten, indem es Veranstaltungen organisiert, die diese Denktradition in einer kritischen Perspektive wieder zur Geltung kommen lassen sollen. Zu diesem Zweck sind für das kommende Jahr unter anderem eine internationale Konferenz und verschiedene Workshops geplant. Damit soll ein Forschungsnetz geschaffen werden, das zur Aktualisierung der wichtigsten Aspekte des neukantianischen Denkens beiträgt. Dr. Redaelli, der derzeit an seiner philosophischen Habilitationsschrift arbeitet, betont: „Den Neukantianern geht es nicht um eine historisierende Deutung des kantischen Werks. Die programmatische Forderung ‚Zurück zu Kant‘ erklärt vielmehr den systematischen Anschluss an Immanuel Kant als unerlässlich für die Begründung von Philosophie als Wissenschaft.“


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