Stadt, Land, Datenfluss
Warum der ländliche Raum 5G braucht
Der Ausbau der digitalen Infrastruktur geht in Deutschland nur langsam voran. Da stellt sich die Frage: Braucht der ländliche Raum überhaupt 5G?
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek hat die Milchkanne hoffähig gemacht. Seit ihrem Interview vom November 2018 steht das altertümliche Gefäß für die Benachteiligung des ländlichen Raums. Der Mobilfunkstandard 5G sei nicht an jeder Milchkanne notwendig, sagte sie. „Wenn wir 4G flächendeckend haben, sind wir schon sehr gut ausgestattet.“ Der mediale Aufschrei war groß, nicht nur seitens des Bauernverbands.
Was wollte die Ministerin damit sagen? Wollte sie den Netzbetreibern signalisieren, dass der Staat nicht regulatorisch auf einen schnellen Ausbau von 5G in der unrentablen Fläche drängen werde? Oder wollte sie einfach nur die Kirche im Dorf lassen? Auf das Gebot der Nachhaltigkeit verweisen? Den ländlichen Raum vor der scheinbar alternativlosen Beschleunigung aller Lebensverhältnisse schützen?
„5G ist mehr als nur das olympische Prinzip des ,höher, schneller, weiterʻ; eher ein Baukasten, ein Schweizer Taschenmesser oder eine Eier legende Wollmilchsau“
Fest steht jedoch eines: Wachstum ist nicht nur die Grundlage unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung – sondern auch mit Blick auf Rechnerleistung und Datenmenge die unbestrittene Realität. Intel-Mitbegründer Gordon Moore sagte 1965 eine jährliche Verdopplung der Komplexität integrierter Schaltungen voraus und präzisierte sie 1975 auf zwei Jahre. Das „Mooresche Gesetz“, das ein exponentielles Wachstum der Schaltkreisdichte auf einem Computerchip beschreibt, gilt im Wesentlichen bis heute.
„Die Datenübertragungsrate verdoppelt sich alle zwei Jahre, das drahtlos übertragene Datenvolumen sogar beinahe jährlich“, sagt Prof. Dr. Georg Fischer vom Lehrstuhl für Technische Elektronik der FAU. Aus wissenschaftlicher Sicht sei das exponentielle Wachstum der IT-Branche keine Bedrohung, so Fischer.
Download in Sekunden statt Minuten
Große Teile der Gesellschaft könnten sich dennoch bedroht fühlen, vor allem nach den Erfahrungen mit dem Coronavirus. Nicht, weil im Netz krude Verschwörungstheorien verbreitet werden, die 5G als Auslöser der Pandemie ansehen und die in Deutschland sowie einigen anderen europäischen Ländern zu Anschlägen auf Mobilfunk-Anlagen geführt haben. Nicht weil einige Heilpraktiker und Mediziner vor den Millimeterwellen warnen. Nicht einmal, weil die Sorge um die Gesundheit ein berechtigtes Anliegen ist. Sondern weil die Bevölkerung inzwischen sehr viel besser versteht, was exponentielles Wachstum generell bedeutet, und weil die globalen Grenzen des Wachstums infolge der Klimakrise immer sichtbarer werden.
Die Angst vor den gesellschaftlichen Auswirkungen des 5G-Standards dürfte also größer werden. Dabei taugt die fünfte Generation des Mobilfunks gar nicht als Feindbild, weil sie sich nicht auf eine einzige neue Technik reduzieren lässt. „5G ist mehr als nur das olympische Prinzip des ,höher, schneller, weiterʻ; eher ein Baukasten, ein Schweizer Taschenmesser oder eine Eier legende Wollmilchsau“, sagt Fischer. Der Übergang von 4G zu 5G sei technisch gesehen viel weicher als der von 3G zu 4G. „Die Netzbetreiber verkaufen uns den neuen Standard natürlich als gewaltigen Schritt.“
Der Experte für Elektrotechnik, der zum wissenschaftlichen Beirat der „5G Bavaria“- Initiative des Fraunhofer IIS gehört, nennt drei miteinander vernetzte Anwendungsprofile (eMBB, mMTC, URLLC) sowie die staatliche Funkregulierung als tragende Säulen von 5G.
Lokale statt landesweite Netze
Das eMBB (enhanced Mobile Broadband) erlaubt eine Erhöhung der Datenrate auf mehr als zehn Gigabyte pro Sekunde. Ein Film in HD-Qualität von einer Stunde Länge, der unter 4G in sechs Minuten heruntergeladen ist, braucht bei 5G nur noch sechs Sekunden. Die deutlich höhere Datenübertragungsrate macht unter anderem das problemlose Arbeiten und Spielen in einer Cloud möglich. Im Bereich der „Augmented Reality“ (AR) erweitern dreidimensionale Videos die Wahrnehmung der Realität. Mithilfe von AR-Brillen können die Besucher einer archäologischen Stätte in Echtzeit durch die Vergangenheit wandeln, Zeitzeugen zuhören, die nie ihre Sprache gesprochen haben, und in Gebäude eintreten, von denen nur noch die Grundmauern erhalten sind.
Das Anwendungsprofil mMTC (massive Machine Type Communication) ermöglicht das „Internet der Dinge“. Denkbar ist die Vernetzung von mehr als einer Million Geräten pro Quadratkilometer. „Jede Parkuhr, jede Straßenlaterne, jeder Parkplatz und jeder öffentliche Mülleimer bekommt einen drahtlosen Internetanschluss“, prophezeit Fischer. In einer „Smart City“ kennt die Automatisierung keine Grenzen. Der Kühlschrank dieser schönen neuen Welt bestellt selbstständig Milch und Butter, bevor die Vorräte zur Neige gehen. Und die „Industrie 4.0“ profitiert von der direkten Kommunikation zwischen Fertigung, Logistik und Produkt.
Kurze Latenzzeiten sind für die drahtlose digitale Kommunikation im Multimediabereich unerlässlich.
Das Anwendungsprofil URLLC (Ultra Reliable Low Latency Communication) konzentriert sich auf kurze Reaktionszeiten und eine verlässliche Übertragung. Angestrebt wird eine Latenzzeit von unter einer Millisekunde und eine 99,99-prozentige Übertragungssicherheit für eine Informationsmenge von 32 Byte innerhalb einer Tausendstelsekunde. Mit dieser Technik lassen sich Maschinen und Industrieanlagen in Echtzeit steuern. Sie ermöglicht das autonome Fahren, die computerassistierte Operation und den störungsfreien Handyempfang selbst bei 500 Stundenkilometern.
„Kurze Latenzzeiten sind für die drahtlose digitale Kommunikation im Multimediabereich unerlässlich“, erklärt Fischer am Beispiel eines Schlagzeugers. Ohne elektronische Hilfsmittel hört der Musiker seinen eigenen Trommelschlag gemäß der Schallgeschwindigkeit nach etwa zwei Millisekunden. Muss der Ton aber zuerst zu einem Mischpult gefunkt und anschließend zurück an den Kopfhörer gesendet werden, verlängert sich die Latenzzeit.
„Doch bei einer Verzögerung von mehr als fünf Millisekunden zwischen Mikro und Kopfhörer wird der Schlagzeuger wahnsinnig“, erklärt Fischer. Die Mobilfunkstandards 2G, 3G, 4G kämen nicht unter 100 bis 200 Millisekunden, weshalb in der Musikbranche bisher zumeist nur analoge Funksysteme zum Einsatz kämen. „Mit 5G lassen sich die Anforderungen eines Schlagzeugers erfüllen.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der 5G-Standard einen technischen Baukasten bietet, der intelligent verwaltet wird und dem Verbraucher genau die Funktionen zuweist, die er braucht. Gleichzeitig gibt es eine entscheidende Änderung bei der Regulierung des Mobilfunks. Waren bisher nur landesweite Netze möglich, können nun lokale 5G-Netze mit speziellen Aufgaben aufgebaut werden. Aktuell betreibt die Fraunhofer-Gesellschaft in Rosenheim und im Nordostpark Nürnberg ein solches Testnetz. Auch für die FAU wäre ein eigenes Campusnetz denkbar.
Ausbau von 4G wichtiger als 5G
„Ich habe den Eindruck, dass die Öffentlichkeit beim Funknetz nur auf die Technik schaut und den Einfluss der Regulierung unterbewertet“, meint Fischer. Das Problem der Unterversorgung des ländlichen Raums könnte beispielsweise gelöst werden, indem der Staat den Mobilfunkanbietern auferlege, die Basisstationen der Konkurrenz zu nutzen (Stichwort: National Roaming). Oder indem er den Betreibern nachdrücklicher vorschreibe, das Netz flächendeckend auszubauen. „Die Basisstation in der hintersten Oberpfalz spielt kein Geld ein.“ Daher gebe es immer noch Funklöcher.
„Der Ausbau digitaler Infrastruktur ist heute nicht weniger wichtig als der von Autobahnen, Bahnhöfen und Gewerbegebieten in der Vergangenheit“
„Wie bei der Automobilindustrie nutzt der Staat seine Power gegenüber den Mobilfunkanbietern nicht aus“, sagt der Experte für Elektrotechnik. Dem ländlichen Raum wäre momentan am meisten geholfen, wenn das 4G-Netz schnell ausgebaut würde. „Dazu muss man nur Geld in die Hand nehmen, Basisstationen aufstellen und diese mit einer hinreichend schnellen Verbindung zum Kernnetz versehen.“
Prof. Dr. Tobias Chilla, Geograf an der FAU mit dem Schwerpunkt Regionalentwicklung, kritisiert vor allem die Signalwirkung, die mit der Diskussion um 4G und 5G verbunden ist: „Zu sagen, 5G hört beim ländlichen Raum auf, empfinde ich als skurril.“ Der Staat sei verpflichtet, das verfassungsrechtlich verankerte Ziel der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ umzusetzen. „Der Ausbau digitaler Infrastruktur ist heute nicht weniger wichtig als der von Autobahnen, Bahnhöfen und Gewerbegebieten in der Vergangenheit“, sagt Chilla.
Die Digitalisierung werde auch vor der Landwirtschaft nicht haltmachen (Stichwort: Smart Farming). Um die Mobilität von weniger und vergleichsweise älteren Menschen auf dem Land zu sichern, biete sich das autonome Fahren an, sagt der Geograf. Gerade für Menschen, die auf dem Land wohnen und in der Stadt arbeiten, sei das Homeoffice eine echte Alternative. Doch dazu brauche es eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur.
Vor allem gehe es darum, die vorhandenen Stärken zu schützen. Die ländlichen Gebiete in Süddeutschland, Österreich, der Schweiz und Norditalien seien selbst im weltweiten Vergleich überproportional gut entwickelt. „Dort gibt es viele mittelständische Betriebe, die gute Löhne zahlen.“ In zentralistischen Staaten wie beispielsweise Frankreich seien dagegen die Metropolen überlastet und die Zustände auf dem Land oft prekär.
Gesellschaftliche Teilhabe verbessern
Es dürfe auf keinen Fall zu einer digitalen Spaltung, also dem sogenannten „digital divide“ zwischen Stadt und Land kommen, argumentiert Chilla. „Deutschland war hinsichtlich seiner Digitalisierungsstrategie nicht besonders effektiv.“ Der Staat müsse sich mehr engagieren. „Viele Bahnstrecken und Autobahnen rentieren sich auch nicht.“
Prof. Dr. Sabine Pfeiffer vom Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Technik – Arbeit – Gesellschaft der FAU beurteilt die Entwicklung ähnlich. „Früher hat sich der Staat für die Infrastruktur verantwortlich gefühlt. Heute überlässt er es dem Markt, der sich nach wirtschaftlichen Kriterien entscheidet“, sagt sie. Der Staat ziehe sich an der falschen Stelle zurück.
Schlechte oder fehlende Mobilfunknetze seien mit ein Grund, warum junge Menschen vom Land in die Stadt ziehen. „Wir müssen sehr aufpassen, dass der Zugang zu neuen Technologien allen offensteht.“ Die Politik dürfe weiße Flecken weder auf der Landkarte noch in der Gesellschaft hinterlassen. Sonst entstünden Parallelwelten. „Wenn Technik die Voraussetzung ist, um in einer Gesellschaft dabei zu sein, dann ist es wichtig, dass dieser Zugang für alle offen ist“, sagt die Soziologin.
Kinder aus Familien, die sich keine Flatrate und keinen Laptop leisten können, seien von der Coronakrise viel stärker betroffen als andere. „Wir sind in Deutschland gut darin, sehr komplexe Systeme wie ein Mobilfunknetz zu schaffen, aber nicht gut in der gesellschaftlichen Teilhabe an solchen Systemen“, sagt Pfeiffer, die seit 2016 Mitglied im Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0 ist.
Auswirkungen auf die Gesundheit?
Dazu gehöre auch die Teilhabe an der Risikobewertung. „Die Politik ist in der Pflicht, mit den Sorgen der Bevölkerung vor möglichen Gesundheitsgefahren durch 5G ernsthaft und auf Augenhöhe umzugehen.“ Es genüge nicht, die Kritiker als unwissend abzustempeln, sondern man müsse ihre Ängste mit guten Argumenten ausräumen.
Bei der Frage nach dem Gesundheitsrisiko einer neuen Technologie sollte man sich allerdings bewusst sein, dass die Erkenntnisse nicht über den aktuellen Stand der Wissenschaft hinausgreifen können: „Die Angst um die thermische Wirkung der für 5G verwendeten Strahlung ist völlig unbegründet“, sagt Fischer. Der Grenzwert sei paranoid scharf. „Er führt dazu, dass die Temperaturerhöhung im Körper typischerweise nicht mehr als 0,001 Grad beträgt. Wer sich im Winter auf die Ofenbank legt oder mit der Hand an die Heizung fasst, bekommt mehr Temperaturerhöhung, als jemals durch Mobilfunk möglich wäre.“
„Wenn es überhaupt negative Effekte auf die Gesundheit geben sollte – das ist alles noch nicht wissenschaftlich bewiesen –, so denke ich, dass diese eher bei den athermischen Effekten zu suchen sind“, erklärt Fischer. Diese könnten, wenn überhaupt, nur bei 2G-Systemen wie GSM und TETRA auftreten. Die Mobilfunkstandards 3G (UMTS), 4G (LTE) und 5G hätten keine solche Pulsung.
„Wenn es gelingen sollte, einen wissenschaftlich soliden Nachweis athermischer Effekte zu erbringen, so wäre von solchen Ergebnissen eher 2G betroffen als 5G. Gemäß heutigem Stand von Wissenschaft und Technik sind keine negativen Auswirkungen von 5G auf die Gesundheit zu erwarten“, betont Fischer.
Vielleicht ein Grund mehr für 5G an jeder Milchkanne.
Über den Autor
Mathias Orgeldinger ist promovierter Diplom-Biologe und freier Journalist. Er schreibt und fotografiert für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.
FAU-Forschungsmagazin friedrich
Dies ist ein Beitrag aus unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe nimmt Sie mit auf ganz verschiedene Wege – alltägliche, aber auch ungewöhnliche, auf berühmte Handelsstraßen, auf Entdeckungsreisen, Umwege und Pilgerpfade.
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