Laufmasche
KI soll die Diagnostik und Therapie neurologischer Leiden verbessern
Wenn Krankheiten die Beweglichkeit einschränken, wird jeder Weg beschwerlich. Mittels künstlicher Intelligenz ermöglichen FAU-Wissenschaftler eine objektivere Diagnostik und Therapie bei neurologischen Leiden.
Laufen, springen, klettern, schwimmen, Rad fahren oder einfach nur spazieren gehen –die Fähigkeit, sich ungehindert zu bewegen, ist Teil unserer Lebensqualität. Bewusst wird uns das häufig erst, wenn diese Fähigkeit eingeschränkt ist: durch neuronale Krankheiten wie Schlaganfall, Multiple Sklerose oder Parkinson, durch Gelenk- und Muskelentzündungen oder durch Tumore. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Demenz können die Bewegungsfreiheit einschränken.
Für all diese Krankheiten gibt es definierte Parameter, anhand derer Schwere und Stadium beurteilt und geeignete Therapien eingeleitet werden. Das Problem dabei: Diese Bewertung berücksichtigt Alltag und Befindlichkeiten der Patientinnen und Patienten nur unzureichend. „Wir können zum Beispiel den Blutdruck und die Reflexe messen, den Muskeltonus bestimmen oder EKG-Daten auswerten“, sagt Prof. Dr. Jochen Klucken. „Für den Betroffenen spielt das eine untergeordnete Rolle – für ihn zählt, wie stark sein Leben eingeschränkt ist. Das wiederum ist in der wissenschaftszentrierten Medizin nur ein untergeordneter Untersuchungsbefund.“
Diagnostik „zu grob und subjektiv“
Klucken ist Oberarzt und Stellvertretender Leiter der Abteilung für Molekulare Neurologie am Universitätsklinikum Erlangen. Er erforscht die Auswirkungen neuronaler Erkrankungen auf die Körperfunktionen, darunter auch auf die Bewegungsfähigkeit. Parkinsonpatientinnen und -patienten etwa durchlaufen mehrere Stadien von Bewegungsstörungen: Zunächst kommt es zu einer allgemeinen Bewegungsarmut und zu vermindertem Muskelspiel, was die Gesichtsmimik, das Sprechen, das Schlucken und die Geschicklichkeit der Hände beeinträchtigt. Später können Muskelsteifheit und Fehlhaltungen, langsames Zittern und eine verminderte Körperstabilität bis hin zur Gang- und Standunsicherheit auftreten.
Solche Symptome werden vom Arzt untersucht und klassifiziert. Der international etablierte Standard für klinische Studien ist die UPDRS – die Unified Parkinson’s Disease Rating Scale. Um den Fortschritt der Krankheit bewerten zu können, werden psychische Funktionen wie Denkstörungen oder Depressionen erfasst, Aktivitäten des täglichen Lebens wie Schreiben, Ankleiden und Hygiene analysiert und die Motorik wie Sprache, Handbewegung oder Gang beobachtet. Am Ende steht für jedes dieser Symptome lediglich ein Wert von null bis vier, von „keiner Einschränkung“ bis zur „völligen Funktionsunfähigkeit“. „Diese Form der Symptombewertung wurde für klinische Studien entwickelt“, sagt Jochen Klucken. „Hier wird ein Summenscore berechnet, der im Vergleich zu einer anders behandelten Patientengruppe Unterschiede zeigen soll.“
Der Neurologe ist mit dieser Kategorisierung auf der Symptomebene nicht glücklich, weil sie eine „grobe und subjektive“ Einschätzung liefere. In der Versorgung eines Einzelnen könne sie kaum bei der Entscheidung helfen, welche Therapie gewählt werden soll, wie sie wirkt oder wie die Medikamentengabe dosiert wird. „Die Unterscheidung eines Scores von eins oder zwei besitzt aus medizinischer Sicht eine geringe Trennschärfe“, sagt er. „Für den Betroffenen können Welten dazwischen liegen.“ Problematisch sei es auch, sich rein auf die apparative Diagnostik wie EKG, EEG oder Kernspintomografie zu verlassen, weil sie keine Erfassung dynamischer Bewegungen zulasse. Außerdem sei die ärztliche Untersuchung immer eine Momentaufnahme – abhängig von der Tagesform der Erkrankten, von temporären Begleitumständen, von der aktuellen Medikamentendosis. Klucken: „Sinnvoll wäre eine Beobachtung der Patienten über einen längeren Zeitraum, etwa in speziellen Bewegungslabors. Aber die gibt es in der klinischen Praxis kaum, und sie können vor allem im Alltagsumfeld der Patientinnen und Patienten nicht eingerichtet werden.“
Sensorschuh für Parkinsonpatienten
Wie sonst aber kann der Alltag der Erkrankten möglichst unverfälscht abgebildet und der Krankheitsfortschritt damit objektiver bewertet werden? Einen wichtigen Impuls für die Beantwortung dieser Frage gab eine Entwicklung, die zunächst nicht auf die medizinische Praxis, sondern auf Fitness und Lifestyle gerichtet war: die sogenannten Wearables. Das sind zum Beispiel Armbänder oder Uhren, die den Puls und die Schrittfrequenz messen und damit Auskunft über die körperliche Aktivität des Trägers geben. „Das Prinzip, Bewegungen durch Sensoren zu erfassen, wollten wir auf die neurologische Diagnostik übertragen“, sagt Jochen Klucken. „Unsere Lösung sollte nicht nur die relevanten Parameter messen, sondern zugleich auch robust, einfach konstruiert und vergleichsweise preiswert sein. Sie sollte ein unkompliziertes Monitoring sowohl im Klinikalltag als auch im häuslichen Umfeld des Patienten ermöglichen.“
Diesem Ziel sind die Forscher nun ein großes Stück näher gekommen – mit „Mobile GaitLab“. Herzstück der Entwicklung, die vor zwölf Jahren begann, ist ein sensorbestückter Schuh, der verschiedene Gangparameter der Patientinnen und Patienten misst: Geschwindigkeit, Schrittlänge, Gleichmäßigkeit und beispielsweise auch, wie hoch der Fuß gehoben wird. Schon kleinste Veränderungen dieser Werte können Verschlechterungen oder, im günstigen Fall, Verbesserungen des Krankheitsverlaufs anzeigen. Der Sensor selbst unterscheidet sich nicht wesentlich von jenen, die die räumliche Lage von Smartphones erfassen und beispielsweise dafür sorgen, dass die Bildschirmanzeige automatisch gedreht wird. In einer mehrjährigen Testphase mit zahlreichen klinischen Studien konnte bestätigt werden, dass die erfassten Gangparameter sehr gut mit den Symptomen der Krankheit korrelieren. Vor wenigen Monaten ist der Sensorschuh als Medizinprodukt zertifiziert worden und kann für die Versorgung im Alltag genutzt werden.
Künstliche Intelligenz unterstützt die Ganganalyse
Mit präzise arbeitenden Sensoren und den erfassten Daten allein aber kann man nicht viel anfangen. Deshalb haben die Neurologen sich mit Prof. Dr. Björn Eskofier vom Lehrstuhl für Maschinelles Lernen und Datenanalytik zusammengetan. Eskofier ist Experte für Mustererkennung durch künstliche Intelligenz, die zum Beispiel bei der Auswertung von Bilddaten zum Einsatz kommt – aber eben auch bei der Verarbeitung der fast 700 einzelnen Messwerte, die der Sensorschuh liefert. „Die Bewegung eines Menschen ist wie ein individueller Fingerabdruck“, sagt der Informatiker. „Wir brauchen selbstlernende Algorithmen, die sowohl das Muster des individuellen Gangs verstehen als auch Veränderungen bewerten können.“ Zu dieser Bewertung gehöre auch die Analyse von Kontextfaktoren, erklärt Eskofier: „Was bedeutet es beispielsweise, wenn der Patient besonders langsam läuft? Hat sich sein Zustand verschlechtert oder geht er gerade mit seiner betagten Mutter spazieren? Je mehr Daten wir gewinnen und sinnvoll interpretieren, umso besser funktioniert das System.“
Die große Stärke von „Mobile GaitLab“ ist es, aus den Rohdaten objektive Scores zu generieren, auf deren Basis über die geeignete Therapie entschieden wird. „Das setzt allerdings voraus, dass die Arztpraxen, Kliniken und Therapeuten über eine digitale Vernetzung verfügen, die die online übermittelten Werte verarbeiten kann“, sagt Jochen Klucken. „Davon sind wir jedoch noch Jahre entfernt.“ Der Sensorschuh soll den Patientinnen und Patienten dennoch auch unmittelbar helfen können, etwa dabei, die Medikamentendosis selbstständig anzupassen. Das könnte die Lebensqualität in mehrfacher Hinsicht erhöhen: zum einen durch die akute Linderung von Beschwerden, zum anderen durch eine reduzierte Zahl von Arztbesuchen. Befördert werden könnte das durch die digitalen Gesundheitsanwendungen – also die „App auf Rezept“ – im Rahmen des neuen Digitalen Versorgungsgesetzes.
„Es gibt noch viele offene Fragen. Dazu zählt beispielsweise auch, wie mit den erhobenen Daten umgegangen wird, wie lange sie gespeichert werden und wer Zugriff darauf hat“, sagt Klucken. „Ich bin jedoch überzeugt davon, dass der Sensorschuh dazu beitragen wird, die Mobilität der Betroffenen nachhaltig zu verbessern – nicht nur bei Parkinson, sondern auch bei Multipler Sklerose oder Schlaganfällen.“
Über den Autor
Matthias Münch studierte Soziologie und arbeitete als freier Journalist bei verschiedenen Tageszeitungen. Seit 2001 unterstützt er Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen bei der Öffentlichkeitsarbeit und Corporate Communication.
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