Grenzerfahrungen
Warum Menschen über Landesgrenzen pendeln
Dort, wo Menschen über Staatsgrenzen zur Arbeit pendeln, zeigt sich, wie gut Europa zusammenwächst – und wo es dabei hapert.
Als in der Corona-Krise – meist von einem Tag auf den anderen – viele Grenzen zwischen den Ländern Europas wieder geschlossen und Menschen voneinander getrennt wurden, nur weil sie auf unterschiedlichen Seiten zu Hause waren, zeigte die große Zahl der Betroffenen, wie stark der Kontinent inzwischen zusammengewachsen ist. Die europäische Einigung ist also auf dem Weg. Und gleichzeitig ist erstaunlich wenig darüber bekannt, wie dieses Zusammenwachsen der Europäischen Union und der mit ihr assoziierten Länder an ihren Nahtstellen tatsächlich funktioniert. Was passiert an den Grenzen zwischen Bayern und Böhmen, Dänemark und Schweden oder in den Großräumen rund um Zentren wie Luxemburg oder Basel? „Dazu gibt es nur sehr wenige Daten und Statistiken“, erklärt Professor Tobias Chilla, der am FAU-Institut für Geographie Grenzräume erforscht.
Die einzigen relativ zuverlässigen Daten gibt es über Menschen, die auf einer Seite einer Grenze leben und auf der anderen arbeiten. Seit durch das Schengener Abkommen die Personenkontrollen entfallen sind, wächst aus unterschiedlichen Gründen der Pendelverkehr an diesen Nahtstellen des europäischen Zusammenwachsens oft kontinuierlich an.
Pendeln für die Karriere
In etlichen Regionen treibt das Geld die zunehmend engere Verflechtung zwischen den Nachbarn voran. Zum Beispiel liegen die Einkommen in Luxemburg und der Schweiz oft fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Umgekehrt aber ist das Leben und vor allem das Wohnen in diesen Ländern erheblich teurer als bei den Nachbarn. Da liegt es natürlich nahe, dort zu arbeiten, wo man erheblich mehr verdient, und dort zu wohnen, wo das Leben viel günstiger ist. Und so arbeiten viele Menschen zwar in Wien, pendeln nach Feierabend jedoch in die nur 60 Kilometer entfernte, aber viel preiswertere Hauptstadt der Slowakei, Bratislava. Ähnliches passiert auch zwischen Bayern und Sachsen auf der einen und Tschechien auf der anderen Seite.
„Statt als Labore Europas entpuppen sich die Nahtstellen der Europäischen Union also als Museen“
Auch in Frankreich sind die Gehälter deutlich niedriger als in seinen Nachbarländern. Viele Menschen von dort arbeiten daher jenseits der Grenze. Das führt zum Beispiel dazu, dass in der Gastronomie und im Einzelhandel in Luxemburg fast nur französisches Personal tätig ist.
Aber es ist keineswegs nur das Einkommen, das einen Job im Nachbarland attraktiv macht. In Basel haben zum Beispiel Pharma-Unternehmen mit weltweiten Spitzenpositionen ihren Sitz, die wie ein Magnet etliche Jobsuchende anziehen. Ähnliches gilt auch für den starken Finanzsektor in Luxemburg: Weil ein Job dort die eigene Karriere durchaus fördert, nehmen viele Menschen das Pendeln gern in Kauf.
In ländlichen Regionen wie auf beiden Seiten der Grenze zwischen Bayern und Böhmen sind die Arbeitsplätze oft sehr dünn gesät und manchmal noch dazu hoch spezialisiert. Da kann es leicht passieren, dass man seinen Traumjob hinter der Grenze findet, während der Lebenspartner seine Brötchen auf der anderen Seite verdient oder die Kinder in der Muttersprache aufwachsen und diese auch in der Schule sprechen sollen. Und schon pendelt wieder eine Person, die das Zusammenwachsen Europas an den Grenzen und damit genau dort, wo es am wichtigsten ist, wieder ein Stück voranbringt.
Alles hat seine Grenzen
Einfach aber ist das Pendeln nicht immer. „Oft ist zum Beispiel die Verkehrsplanung zwischen den Nachbarn alles andere als gut untereinander abgestimmt“, erklärt Tobias Chilla. Wenn man aber für einen Job im Nachbarland lange Fahrzeiten in Kauf nehmen müsste, ist die angebotene Stelle dort gleich viel weniger attraktiv. „Einheitliche Tickets für den Personenverkehr über die Grenze gibt es oft nicht, und manchmal darf aus formalen Gründen nicht einmal der Rettungswagen ins Nachbarland zum Einsatz fahren“, schildert Tobias Chilla weitere Hindernisse beim Zusammenwachsen. „Statt als Labore Europas entpuppen sich die Nahtstellen der Europäischen Union also als Museen“, fasst er zusammen. Mit dieser Forschung identifiziert Tobias Chilla also nicht nur die Stärken, sondern auch die Schwächen beim Zusammenwachsen der EU. Damit liefert er Anregungen, wie man die Schlaglöcher auf dem Weg zu einem grenzenlosen Europa beseitigen kann.
Über den Autor
Roland Knauer ist promovierter Naturwissenschaftler, er lebt und arbeitet als Journalist und Autor mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften in der Marktgemeinde Lehnin. Unter www.naturejournalism.com stellt er sich vor.
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