„Covid-19 ist ein turbulenter Ozean.“

Enrique Zuazua in einer Bibliothek
Enrique Zuazua, LS für Angewandte Analysis, Alexander von Humboldt-Professur. (Bild: FAU/Boris Mijat)

Enrique Zuazua ist Humboldt-Professor für Angewandte Analysis an der FAU. Als Experte für die Ausbreitung von Wellen untersucht er auch die Dynamik der Corona-Pandemie.

Herr Prof. Zuazua, Sie analysieren und modellieren, wie sich Wellen ausbreiten oder Verkehrsströme fließen. Was haben diese Prozesse mit Corona zu tun?

Wellen sind überall. Und sie haben einige Gemeinsamkeiten: Sie haben eine Form, sie bewegen sich, und sie transportieren Energie. In diesem Sinne ist Covid-19 auch eine Welle, allerdings keine monotone. Sie sieht eher aus wie ein turbulenter Ozean ungeordneter Wellen, die mitschwingen, nachhallen und sich selbst reproduzieren. Und das Schlimmste ist, dass wir Menschen das Medium sind, in dem die Covid-19-Wellen leben. Wir sind die Agenten, die sie transportieren, und gleichzeitig ihre Opfer.

Das SIR-Modell ist der klassische Ansatz zur Beschreibung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Arbeiten Sie auch mit diesem Ansatz?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass wir zur Bewertung einer Epidemie nicht nur die Zahl der Infizierten messen, sondern auch diejenigen berücksichtigen, die sich erholt haben und diejenigen, die nach wie vor anfällig für Infektionen sind. Insofern berücksichtigen wir natürlich die SIR-Modellierung. Wir verwenden jedoch weitere moderne datengesteuerte Techniken, die es ermöglichen, das Modell, basierend auf den verfügbaren Daten, besser anzupassen und zu verfeinern.

Die Ausbreitung von Krankheiten hängt von vielen Einflussfaktoren ab, wie Impfrate, Durchschnittsalter, Kontaktrate, Mobilitätsverhalten. Welche Faktoren berücksichtigen Sie bei Ihren Modellberechnungen?

Wir nutzen ein Kompartimentmodell, das unterschiedliche Komplexitätsgrade ermöglicht. Alle Parameter, die Sie erwähnen, können berücksichtigt werden – und viele andere mehr, etwa Vorerkrankungen von Personen oder die Unterteilungen in Regionen. In unsere Arbeit haben wir so viele Informationen wie möglich aufgenommen, insbesondere den Stringenzindex, der misst, wie wirksam administrative Maßnahmen sind, um das Virus einzudämmen. Unsere Perspektive ist die der Kontrolltheorie: Covid-19 ist kein Prozess, den wir passiv beobachten, sondern ein Prozess, bei dem wir als Akteure die Ausbreitung der Pandemie verhindern wollen.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie bisher gekommen?

Die Modelle, die wir manipuliert haben, zielen darauf ab, beispielsweise die durchschnittliche Entwicklung der Pandemie in verschiedenen Ländern zu verfolgen, hauptsächlich in der EU. Was wir leider nicht haben, und soweit ich weiß, auch niemand sonst, ist ein globales Simulatormodell. Das liegt daran, dass es eine beunruhigende Eigenschaft von Covid-19 ist, von einer entfernten Region in eine andere zu gelangen. Deshalb ist es zum Beispiel notwendig, auf Flughäfen strenge Kontrollen durchzuführen.

Können Sie Handlungsempfehlungen aus Ihren Simulationen ableiten?

SIR-Modelle und -Modellvarianten gehen davon aus, dass sich Covid-19 zu einem Zug aufeinanderfolgender Wellen entwickeln wird. Wanderwellen erweitern ihren Einflussbereich durch Diffusion und dringen in benachbarte Regionen ein. Das aktuell effektivste Mittel dagegen sind Firewalls, die verhindern, dass sich die Ausbreitung fortsetzt. Mit anderen Worten: soziale Distanzierung und die Befolgung strenger Verhaltensregeln.

Mit wem kooperieren Sie bei Ihrer Forschung zu Covid-19?

Wir arbeiten mit Cyprien Neverov zusammen, einem talentierten Datenwissenschaftler von der „IMT Mines Alès“ in Frankreich. Er verbringt ein Semester am Lehrstuhl für Angewandte Analysis – im Rahmen unseres Praktikumsprogramms, das von der FAU und der Humboldt-Professur kofinanziert wird. Darüber hinaus stehen wir in engem Austausch mit anderen FAU-Teams. Die verschiedenen Modellierungsansätze und -perspektiven sind sehr wertvoll, denn eines ist klar: Alles, was wir wissen, wird für den Kampf gegen Covid-19 benötigt.

Über den Autor

Matthias Münch studierte Soziologie und arbeitete als freier Journalist bei verschiedenen Tageszeitungen. Seit 2001 unterstützt er Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen bei der Öffentlichkeitsarbeit und Corporate Communication.


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