Beweggründe
Im Interview: Sportwissenschaftlerin Prof. Dr. Anne Reimers
Wer sich als Kind regelmäßig bewegt, wird dies wahrscheinlich auch als erwachsener Mensch tun. Jungen und Mädchen bewegen sich aber unterschiedlich viel. Wie kommt es zu dazu? Und wie kann man dem entgegenwirken? Sportwissenschaftlerin Prof. Dr. Anne Reimers im Interview.
Frau Prof. Reimers, warum ist es so wichtig, Bewegung bei Kindern und Jugendlichen zu fördern?
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für Kinder und Jugendliche jeden Geschlechts mindestens 60 Minuten Bewegung täglich. Jedoch kommen tatsächlich nur wenige auf dieses Pensum. Gleichzeitig haben die Zeiten, die sitzend verbracht werden, in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Zum Beispiel verbringen die Menschen heute mehr Zeit vor den Bildschirmen von Computer oder Smartphone. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Aber auch andere Gegebenheiten verändern sich im Lauf der Zeit. Die Schulwege sind heute etwa oft weiter als noch zu Zeiten der Dorfschule. Das führt dazu, dass die Kinder heute den Bus nehmen oder von den Eltern gefahren werden, statt zu Fuß zu gehen oder das Fahrrad zu benutzen.
Viele Kinder bewegen sich also zu wenig, was gesundheitliche Folgen nach sich zieht. Viele Menschen und auch bereits Kinder und Jugendliche haben starkes Übergewicht, dadurch bedingt häufen sich Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dem entgegenzuwirken, ist gerade in einem Alter wichtig, in dem der Grundstein für die spätere Entwicklung gelegt wird. Denn aus aktiven Kindern und Jugendlichen werden eher auch aktive Erwachsene. Körperliche Aktivität fördert außerdem nachweislich die Konzentrationsfähigkeit und soziale Interaktion mit Gleichaltrigen.
Unterwegs im Alter
Informationen zu einer Studie eines FAU-Forschungsteams zu Beweglichkeit im Alter finden Sie hier.
Wer ist aktiver: Mädchen oder Jungen?
Sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen gibt es eine Schere zwischen sehr Aktiven, die sogar Leistungssport betreiben, und absoluten Couchpotatoes. Wir wissen aber auch, dass zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bestehen: In Europa sind es bei den Jungen von 14 bis 19 Jahren immerhin knapp 25 Prozent, die sich ausreichend bewegen, bei den gleichaltrigen Mädchen nur etwa 14 Prozent. Diese Unterschiede bestehen weniger im Kindesalter, sondern kristallisieren sich zunehmend mit dem Eintritt ins Jugendalter heraus.
Woher rührt dieser Unterschied?
Viele Kinder sind etwa in Sportvereinen aktiv, steigen als Jugendliche jedoch aus. Das ist häufiger bei Mädchen der Fall als bei Jungen. Das liegt zum einen daran, dass Mädchen sich mit eintretender Pubertät zunehmend mit geschlechterspezifischen Normen identifizieren. Sie orientieren sich beispielsweise vermehrt an medialen Vorbildern und an den Rollenerwartungen, die an sie als Mädchen und später als Frauen gestellt werden. Für Mädchen kann es dann eher als unattraktiv gelten, stärker zu schwitzen oder Sportbekleidung wie einen Helm beim Fahrradfahren zu tragen. Auch zeigen Studien, dass weibliche Jugendliche oft beim Sporttreiben nicht so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen möchten. Hingegen demonstrieren Jungen ihre sportlichen Fähigkeiten häufiger ganz gerne vor anderen.
Wie kann dieser Entwicklung vorgebeugt werden?
Wenn man Programme für Kinder und Jugendliche plant, um die körperliche Aktivität zu steigern und Sitzzeiten zu verringern, lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie und wo man sowohl Jungen als auch Mädchen erfolgreich ansprechen kann. Auf Bolzplätzen oder in Skateparks zum Beispiel findet man vergleichsweise weniger aktive Mädchen. Sie sind dort oftmals eher als Zuschauerinnen zu finden und tun sich schwerer, sich dort sportlich zu betätigen.
Deshalb sollte man die Mädchen und ebenso natürlich auch die Jungen dort abholen, wo sie sich ohnehin gern aufhalten – zum Beispiel in den digitalen Medien, die man gezielt auf ihre Interessen zuschneiden könnte. Der Digitalisierung hängt zwar der Ruf an, Kinder und Jugendliche eher vor den Bildschirmen zu fesseln. Doch geschickt genutzt, kann sie einen wertvollen Beitrag leisten, um zu mehr Bewegung anzuregen. Ein Beispiel dafür sind etwa Spiele wie „Pokémon Go“, bei denen man nicht auf dem Stuhl sitzen bleiben kann, sondern aktiv werden muss.
Prof. Dr. Anne Reimers
ist seit 2019 Lehrstuhlinhaberin für Sportwissenschaft an der FAU. Ihr Fokus liegt auf den Bereichen Gesundheitsförderung, Public Health sowie den Sozialwissenschaften des Sports. Als Leiterin des Arbeitsbereichs Public Health und Bewegung forscht sie zu Bewegungsförderung, dem Monitoring spezifischer Bewegungsaktivitäten, sozialen und physischen Bewegungsumwelten sowie Gender und Diversität in der Bewegungsförderung.
Ihre Arbeit setzt genau an diesem Punkt an …
Ja, bisher gab es noch keine wissenschaftliche Systematik, die eine Übersicht über gender-sensitive Ansätze zur Bewegungsförderung bot. Deshalb haben wir im Rahmen unseres Projekts genEffects vorhandene Untersuchungen aus der Geschlechterperspektive unter die Lupe genommen und Interventionsstudien analysiert, die das Ziel hatten, Bewegung zu fördern und/oder Sitzzeiten zu verringern. Viele dieser Studien stammten aus dem schulischen Umfeld. Die herangezogenen Studien aus den letzten 20 Jahren beschäftigen sich mit Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 19 Jahren.
genEffects
Erste Ergebnisse des Verbundprojekts genEffects wurden im Juni 2020 veröffentlicht. Durchgeführt wurde das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern von der TU München und der PH Heidelberg: Die Seite der genEffects-Studie.
Zu welchen Ergebnissen kam die genEffects-Studie?
Tatsächlich spielte der Faktor Geschlecht bei den meisten untersuchten Interventionen nur eine untergeordnete Rolle, und das Geschlecht wurde insbesondere bei der Konzeption und Durchführung der Programme zu wenig beachtet. Unser Projekt liefert nun die Grundlage dafür, Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Geschlechts in Zukunft besser einzubeziehen: In Zusammenarbeit mit einem 16-köpfigen Expertengremium haben wir eine Checkliste erstellt, mit der sich genau abstecken lässt, inwieweit die betrachteten Programme gender-sensitiv angelegt waren. Diese Checkliste kann nun auch als Leitfaden dienen, um bei der Entwicklung und Durchführung von neuen Programmen zur Bewegungsförderung geschlechterspezifischen Aspekten gleich von Anfang Beachtung zu schenken.
Über die Autorin
Dagmar Köhnlein ist staatlich geprüfte Übersetzerin für Englisch und studierte Nordische Philologie und Geschichte an der FAU. Nach ihrem Abschluss sammelte sie Erfahrung als Texterin und Content-Redakteurin und ist heute als freie Übersetzerin, Autorin und Lektorin tätig.
FAU-Forschungsmagazin friedrich
Dies ist ein Beitrag aus unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe nimmt Sie mit auf ganz verschiedene Wege – alltägliche, aber auch ungewöhnliche, auf berühmte Handelsstraßen, auf Entdeckungsreisen, Umwege und Pilgerpfade.
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