Neues mathematisches Modell: Wie gefährliche Bakterien Kolonien bilden
Krankmachende Mikroben genauso wie Krebszellen rotten sich zu größeren Strukturen zusammen – und werden erst dann dem Menschen gefährlich. Wissenschaftler der FAU, des Max-Planck-Zentrums für Physik und Medizin in Erlangen und des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme in Dresden haben jetzt ein neues mathematisches Modell im renommierten Fachmagazin Physical Review Letters vorgestellt, das diesen Vorgang beschreibt. Und damit hilft, neue Ansätze im Kampf gegen Infektionen und Tumore zu finden.
Bei jedem Duschen lässt es sich beobachten: Kleine Wassertröpfchen schließen sich zusammen, bilden immer größere Tropfen – bis sie so schwer sind, dass sie die Wand herunterlaufen. Wissenschaftler*innen bezeichnen dieses alltägliche Phänomen als Koaleszenz – das überraschenderweise auch den Schlüssel dazu liefert zu verstehen, wie Bakterien Kolonien bilden. Forschern der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), des Max-Planck-Zentrums für Physik und Medizin (MPZPM) in Erlangen und des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme (MPI-PKS) in Dresden ist es jetzt gelungen, ein statistisches Modell zu entwickeln, um die Bildung, Dynamik und Mechanik derartiger Zellzusammenschlüsse zu beschreiben. Ihre Ergebnisse haben sie im angesehenen Fachmagazin Physical Review Letters veröffentlicht.
Wenn Bakterien neue Territorien erobern, ist es eine ihrer ersten Aufgaben, sich zusammenzuschließen und mikroskopisch kleine Kolonien zu bilden. Innerhalb dieser Lebensgemeinschaften sind die Mikroorganismen gegen Kräfte, Antibiotika und andere negative Einflüsse besser geschützt als einzelne Individuen – und damit gefährlicher für Menschen und andere Organismen. Das gilt auch für Gonokokken (Neisseria gonorrhoeae), die sich auf der menschlichen (Schleim-)Haut innerhalb von Stunden zu kugelförmigen Zellhaufen formieren, die aus mehreren Tausend Einzellern bestehen. Diese Gebilde sind die eigentlichen krankmachenden Einheiten, Verursacher der weltweit zweithäufigsten Geschlechtskrankheit, der Gonorrhoe.
N. gonorrhoeae besitzt wie viele andere Bakterien lange, bewegliche, fadenförmige Fortsätze. Mit diesen Pili halten sie sich auf Oberflächen fest und bewegen sie sich fort. Zudem interagieren sie damit untereinander und verknüpfen sich aktiv zu Kolonien. Unter dem Mikroskop betrachtet ähnelt dieser Vorgang der Koaleszenz von Wassertropfen.
Zellfortsätze bestimmen maßgeblich die Eigenschaften von Bakterienkolonien
In einem gemeinsamen Projekt unter Führung von Postdoc Dr. Hui-Shun Kuan (FAU) haben der ehemalige Doktorand Wolfram Pönisch (mittlerweile Postdoc an der Universität Cambridge), Professor Frank Jülicher (MPI-PKS) und Professor Vasily Zaburdaev, Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik in den Lebenswissenschaften an der FAU und Mitglied des Scientific Boards des MPZPM, eine Theorie entwickelt, diese Vorgänge mit Methoden der statistischen Physik zu beschreiben. Als Ausgangspunkt ihres Modells nutzen sie die über die Pili ausgeübten Kräfte zwischen den Bakterien. Es gelang ihnen auf diese Weise, die Entwicklung von Kolonien mathematisch nachzuvollziehen. Der Vorgang verläuft analog wie die Kondensation einer Flüssigkeit oder die Trennung zweier Phasen etwa von Wasser und Öl. Wenn die Zahl der Mikroben pro Flächeneinheit einen bestimmten Grenzwert überschreitet, schließen sie sich spontan zusammen und bilden einen dichten Tropfen, den nur noch wenige einzelne Zellen umgeben.
Diese Zelltropfen sind viskoelastisch: Sie reagieren auf schnelle Verformung elastisch und bewegen sich über längere Zeiträume wie eine zähflüssige Flüssigkeit. Welches Verhalten sie zeigen, hängt davon ab, ob das Netz miteinander verflochtener Pili genug Zeit hat, sich neu anzuordnen. Das Modell der Forscher zeigt, welche zentrale Rolle diese fadenförmigen Fortsätze bei der Bildung von Kolonien einnehmen und wie sie deren mechanische Eigenschaften bestimmen.
Die Erkenntnisse lassen sich verallgemeinern und auch dazu nutzen, die Mechanik und Dynamik dichter Zellzusammenschlüsse wie feste Tumore oder Gewebe zu beschreiben. Damit kann die Theorie Medizinern helfen, potenzielle Angriffspunkte aufzuspüren, um mit neuen Wirkstoffen die Bildung von Bakterienkolonien oder Tumoren zu verlangsamen oder sogar zu stoppen.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Vasily Zaburdaev
Lehrstuhl für Mathematik in den Lebenswissenschaften
vasily.zaburdaev@fau.de