Nebenwirkungen eines Viruses
FAU-Soziologin Dr. Marie-Kristin Döbler im Interview
Sie beschäftigen sich mit den soziologischen Aspekten der Folgen der Corona-Pandemie. Was ist dabei besonders zentral?
Besonders zentral ist die Allgegenwärtigkeit von Corona – und das selbst dann und dort, wo das Sars-Cov-2-Virus selbst gar nicht präsent ist. Was ich damit meine, zeigt sich exemplarisch so: Zum einen erleben wir überall Veränderungen auf Grund potentieller Infektionen. Wir umarmen uns nicht mehr zur Begrüßung, wir tragen Masken, wir haben Familie und Freunde ggf. schon lange nicht mehr gesehen, überlegen, wen wir treffen können und bei welchem Wetter etc. Zum anderen berührt kein Gespräch nicht zumindest am Rande die Pandemie: Man spricht über die neuen Zahlen, abgebrochene Urlaube, dass man sich nun schon soooo lange nicht mehr sehen konnte. All das sind soziale Phänomene und doch tauchen in der öffentlichen Wahrnehmung als Expertinnen vor allem Virologen und Medizinerinnen auf, obwohl auch oder gerade die Soziologie befragt werden müsste.
Was sind die Herausforderungen für Gesellschaft und Wissenschaft?
Die Wissenschaft ist mit empirischen Herausforderungen konfrontiert, weil sie einerseits Forschen und Antworten bereitstellen soll, die andererseits aber unter dem Zeitdruck oder angesichts der Unmöglichkeit vor Ort zu sein – gefragt ist ja Distanz – gar nicht liefern kann. Gesellschaftlich ist es eine Herausforderung mit der vorhandenen und nicht-aufzulösenden Ungewissheit umzugehen: Das Wissen, das wissenschaftlich bereitgestellt werden kann, ist vorläufig. Was in der Wissenschaft „Alltag“ ist – die heutige Überzeugung, das heutige Wissen, kann morgen schon überholt sein – ist in der Gesellschaft eher ungewöhnlich und produziert Unsicherheit, ggf. Frustration und Angst. Während die einen Fragen: „Wem kann, wem soll ich noch glauben?“, werden andere dadurch dazu veranlasst, allen zu misstrauen und alles für Fake News zu halten.
Welche Erkenntnisse aus der Pandemie haben für die Gesellschaft besonderes Potenzial?
Es braucht eine Vielstimmigkeit und Interdisziplinarität, um auf Herausforderungen zu antworten; es gibt keine Phänomene, die nur aus einer Perspektive betrachtet werden können – selbst ein Virus ist nicht nur ein medizinischer, virologischer Gegenstand – und einseitige Antworten sind kaum zielführend, ggf. schädlich und unter Umständen erst ursächlich für Krisen. Die Soziologie macht genau das deutlich: die Vielseitigkeit von Phänomenen, die es zu berücksichtigen gilt. Sie nimmt die unerwarteten Aus- und Nebenwirkungen in den Blick, hilft das „richtige Maß“ – beispielsweise politischer Maßnahmen – zu bestimmen und zu erklären, warum bestimmte Maßnahmen nicht effizient, nicht hilfreich sind oder auf Widerstand und Subversion stoßen.
Weitere Informationen:
Dr. Marie-Kristin Döbler
marie-kristin.doebler@fau.de