Den Kunstcharakter vergessen machen

Der Ausschnitt aus einer Handschriftenminiatur in München zeigt Episoden aus dem „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg.
Der Ausschnitt aus einer Handschriftenminiatur in München zeigt Episoden aus dem „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 51, fol. 67v.)

Der FAU-Philologe Florian Kragl hat untersucht, was Literatur besonders wirklichkeitsnah erscheinen lässt.

Es gibt Bücher und Filme, die an uns vorüberziehen. Und es gibt solche, die uns faszinieren. Nicht selten verbinden wir diese Faszination damit, wie wirklichkeitsnah oder realistisch die Geschichten erzählt werden. Worauf dieser Eindruck basiert, hat FAU-Philologe Florian Kragl untersucht.

Gottfrieds Ironie

Kragl hat dafür ein Werk der Weltliteratur aus dem frühen 13. Jahrhundert studiert: den „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Ein Versroman und Fragment, der auf dem Stoff von Tristan und Isolde basiert und als die wahrscheinlich bedeutendste Dichtung des deutschen Mittelalters gilt.

In seinem Buch „Gottfrieds Ironie“ führt Kragl die bis heute anhaltende Popularität des „Tristan“ vor allem auf die als besonders plastisch und lebensecht wahrgenommenen Figuren zurück. Der Eindruck dieser Wirklichkeitsnähe beruht, so der Philologe, auf einer ironischen Distanz zu den Protagonisten, die auf nahezu allen Handlungsebenen spürbar wird: „Gottfried erzählt über weite Strecken kurz und schlüssig, doch er baut immer wieder kleine Störmomente ein. Diese leisen Dissonanzen zwischen dem, was eine Figur will, was sie sagt und was sie tut, lassen den Roman so realistisch wirken, weil das für menschliche Interaktion typisch ist.“

Die Wirren des Verliebens und Überlistens

Ein Beispiel für solche Irritationen ist die Art und Weise, wie Riwalin und Blanscheflur – die späteren Eltern Tristans – zueinanderfinden. Riwalin ist der tapferste und geschickteste Ritter weit und breit, Blanscheflur das schönste Geschöpf unter der Sonne. Kein Märchen würde den leisesten Zweifel daran lassen, dass der Beste die Schönste bekommt, und zwar ohne Umschweife.

Doch Gottfried macht es spannend, die Brautwerbung ist voller Hemmungen, Missverständnisse und Hürden. Kragl: „Paradoxerweise gewinnen genau jene Frakturen des Liebesgeschehens, die in einem Roman eigentlich komisch wirken müssten, an Wahrhaftigkeit.“

Von ähnlichen Wirrungen ist die Drachen-Episode durchzogen: Tristan – als Spielmann Tantris getarnt, weil er den Bruder Isoldes getötet hatte – besiegt das furchtbare Ungeheuer, stirbt jedoch beinahe an den Ausdünstungen der Drachenzunge. Der feige Truchsess indes findet den toten Drachen, schneidet ihm den Kopf ab und erhebt Anspruch auf Isoldes Hand. Isolde wiederum durchschaut sowohl die Tarnung Tristans als auch den Betrug des Truchsesses und muss das Dilemma ihrerseits mit einer List lösen.

„Die Verwobenheit der Listen und ihrer Effekte verstellt jeden geradlinigen Ausweg aus der Lage – und schafft damit einen Habitus der Wirklichkeitsnähe, wie es ein klassisches Drachentötermärchen, wie es aber auch Gaunerfilme wie Ocean’s Eleven oder Der Clou nicht vermöchten.“

Realismus braucht den Schock des Neuen und Ungewohnten. Ähnliche Effekte sind es auch, die heute Serien wie Game of Thrones so erfolgreich machen.

Von Madame Bovary bis zu Game of Thrones

„Realitätseffekte durch Irritation und ironische Distanz finden sich“, sagt Kragl, „in Werken sämtlicher Epochen und Genres.“ In „Der Rosenkavalier“ beispielsweise, der berühmten Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, dem Kragl einen ausführlichen Nachspruch widmet, werden Figurentypen zwar weniger durch ihr Handeln konterkariert, dafür aber durch das, was sie sagen: Die melancholische Marschallin philosophiert verblüffend über Liebe und Zeit, der rüpelhafte Baron Ochs zeigt ein feines Gespür für die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen und der Held der Geschichte, der junge Rosenkavalier Octavian, ist mitunter grenzenlos naiv.

Als ein Paradebeispiel des Realismus gilt bis heute Gustave Flauberts „Madame Bovary“ – etwa das Kapitel, in dem Flaubert die Vergiftung Emmas beschreibt: Über viele Seiten und bis ins Detail erlebt der Leser mit, wie Emma elendig krepiert. „Eine solch drastische Darstellung des Sterbens brach mit den Konventionen des Romans“, sagt Kragl. „Realismus ist kein einfaches Abbildverhältnis, sondern basiert auf der Störung einer Darstellungskonvention. Wenn alle Romane mit solchen Todesszenen enden, verliert sich die Wirkung des Realitätseffekts, er wird zur Konvention. Realismus braucht den Schock des Neuen und Ungewohnten.“

Ähnliche Effekte sind es auch, die heute Serien wie Game of Thrones so erfolgreich machen. Die detaillierte Inszenierung von Brutalität, die Tatsache, dass es keine positiven Helden gibt – diese Irritationen verbuchen viele Zuschauer als realistisch.

„Wir erwarten von Literatur und Film keine Tatsachenberichte und Weltbeschreibungen“, erklärt Kragl. „Literatur hat sehr häufig die Tendenz zur Idealisierung dessen, was wir für ‚Welt‘ oder ‚Wirklichkeit‘ halten. Realismus nimmt diese Idealisierung ein Stück weit zurück und erzeugt so einen ästhetischen Effekt.“ Die ganze Kunst realistischer Darstellung liege eben darin, dass sie ihren Kunstcharakter vergessen mache.


Cover des FAU-Magazins alexanderDieser Beitrag erschien zuerst im FAU-Magazin „alexander“. Sie können den alexander auch als PDF herunterladen. Gerne können Sie sich das Magazin auch kostenlos nach Hause oder an den Arbeitsplatz schicken lassen. Bitte füllen Sie dafür unser Abo-Formular aus.

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