„Die EU-Staaten müssen sich ihrer menschenrechtlichen Verantwortung stellen“
Prof. Anuscheh Farahat über Seenotrettung, sichere Orte und die Rolle der EU
Wie ist die rechtliche Situation bei Seenotrettungen? Wie kann verhindert werden, dass Gerettete an unsichere Orte gebracht werden? Und welche Rolle hat die EU dabei? Mit diesen und mehr Fragen haben sich Prof. Dr. Anuscheh Farahat, Professorin für Öffentliches Recht, Migrationsrecht und Menschenrechte an der FAU, und Prof. Dr. Nora Markard, Universität Münster, im Rahmen einer Studie beschäftigt. Im Interview spricht Prof. Farahat über Seenotrettung, sichere Orte und die Forderungen an die EU, die sich aus der Studie ergeben.
Es gibt immer wieder Meldungen über Seenotrettungen – diese rettenden Boote sind oft in privater Hand. Sollte das nicht eigentlich Aufgabe der EU-Staaten sein?
Politisch und moralisch: Ja, das sollte die Aufgabe der Staaten sein. Rechtlich ist die Sache schwieriger. Das Völkerrecht verpflichtet die Staaten dazu, die nötige Infrastruktur bereitzustellen, damit Menschen in Seenot gerettet werden können. Außerdem sind die Staaten angehalten, private Schiffe unter ihrer Flagge zu verpflichten, in Not geratene Menschen auf hoher See zu retten. Wenn staatliche Schiffe im Mittelmeer unterwegs sind, müssen sie selbstverständlich ebenfalls retten. Das gilt unabhängig davon, aus welchem Grund staatliche Schiffe sich dort aufhalten, also auch bei reinen Militärmissionen. Allerdings sind die Staaten völkerrechtlich nicht dazu verpflichtet, gewissermaßen vorsorglich im Mittelmeer zu patrouillieren, um eventuell in Seenot geratende Personen zu retten. Ob das geschieht, ist eine politische Entscheidung.
Das internationale Seerecht schreibt vor, dass Schiffen in Seenot Hilfe geleistet werden muss und dass die Geretteten an einen sicheren Ort gebracht werden. Was macht solche Orte der Sicherheit aus?
Ein sicherer Ort zeichnet sich dadurch aus, dass die menschlichen Grundbedürfnisse, also Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung, gewährleistet sind. Wenn die Geretteten Flüchtlinge sind, muss zudem berücksichtigt werden, ob ihnen in dem Ort, an den sie gebracht werden sollen, möglicherweise Verfolgung, Tod oder Folter droht. Seerecht und Menschenrechte wirken hier also zusammen. Dies ergibt sich aus den Richtlinien der International Maritime Organization.
Wie sieht die Praxis aus?
Die Praxis sieht leider so aus, dass die Mitgliedstaaten der EU systematisch versuchen, ihre Schutzverantwortung an Staaten in Nordafrika abzuwälzen und damit ihre seerechtlichen und menschenrechtlichen Verpflichtungen zu umgehen. Dies geschieht zum einen, indem die Rettungsleitstellen der Mitgliedstaaten private Schiffe anweisen, die Geretteten nach Libyen oder in andere nordafrikanische Staaten zu bringen. Zum anderen versuchen die EU-Mitgliedstaaten, eine Rettung durch Schiffe von Hilfsorganisationen zu verhindern, indem sie die Küstenwache nordafrikanischer Länder anweisen, Menschen auf hoher See etwa nach Libyen zurückzubringen und die privaten Helferinnen und Helfer anweisen, nicht zur Rettung zu eilen.
Warum ist es so problematisch, gerettete Personen nach Nordafrika zu bringen?
Flüchtlinge, die nach Libyen zurückgebracht werden, landen dort regelmäßig in Lagern, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen leben, die oft nicht einmal das Minimum an medizinischer Versorgung und Lebensmittelversorgung gewährleisten. In diesen Lagern sind sie Zwangsarbeit, Vergewaltigung, Folter, Misshandlung und oft auch willkürlichen Tötungen ausgesetzt. Diese skandalösen und unmenschlichen Bedingungen hat der UN-Hochkommissar für Menschenrechte wiederholt kritisiert und auch die EU-Ratspräsidentschaft hat das 2019 anerkannt. Die EU-Mitgliedstaaten wissen also genau, was sie tun, wenn sie Menschen dorthin bringen.
Wie ist die Lage in anderen nordafrikanischen Staaten?
In anderen nordafrikanischen Staaten ist die Lage zwar nicht genauso dramatisch wie in Libyen. Auch hier gibt es aber wiederholt Berichte von Menschenrechtsorganisationen, wonach Flüchtlinge oftmals Folter, Diskriminierung und willkürlicher Inhaftierung ausgesetzt sind. Für besonders vulnerable Gruppen, wie zum Beispiel Homosexuelle, ist die Situation dort oft besonders unerträglich, weil sie gewaltsamen Angriffen ausgeliefert sind. Marokko und Tunesien haben zudem kein funktionierendes Asylsystem und in einigen Staaten werden Flüchtlinge immer wieder illegal in ihre Herkunftsstaaten zurückgeschoben. Auch diese Staaten sind also längst nicht für alle geretteten Personen sicher. Zugleich ist es aber nicht praktikabel auf einem privaten Schiff zu prüfen, für wen welches Land sicher wäre.
Wie ist die Rechtslage, wenn Gerettete an unsichere Orte gebracht werden, und wie kann das verhindert werden?
Wenn EU-Staaten private Schiffe anweisen, Gerettete an unsichere Orte zu bringen, verletzen sie damit sowohl ihre menschenrechtlichen Pflichten als auch ihre Pflichten nach dem Seevölkerrecht. Denn Staaten dürfen Privatleute nicht anweisen, etwas zu tun, das völkerrechtswidrig wäre, wenn sie es selbst tun würden. Sie dürfen sich dazu auch nicht anderer Staaten bedienen oder diesen bei völkerrechtswidrigem Handeln helfen. EU-Staaten selbst dürfen gerettete Personen in keinem Fall nach Nordafrika bringen, ohne ihre Schutzbedürftigkeit zu prüfen. Diese Prüfung kann aber eben nur in Europa in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgen und nicht auf hoher See.
In einer Studie beschäftigen Sie und Ihre Kollegin Nora Markard sich mit genau diesen Themen: der Seenotrettung, sicheren Orten und dem Verhalten der EU. Welche Forderungen an die EU ergeben sich aus den Studienergebnissen?
Die EU-Mitgliedstaaten müssen umgehend damit aufhören, private Seenotretterinnen und -retter anzuweisen, gerettete Personen in Staaten zu bringen, in denen diese um ihr Leben fürchten und Angst vor Verfolgung und Ausbeutung haben müssen. Zudem müssen die EU-Mitgliedstaaten es unterlassen, mit Regimen zu kooperieren, die für diese unmenschlichen Bedingungen verantwortlich sind, nur um ihre Schutzverantwortung loszuwerden. Stattdessen müssen die EU-Staaten sich ihrer menschenrechtlichen Verantwortung stellen, in Not geratenen Menschen Schutz bieten und legale Zugangswege zum Schutz vor Verfolgung in der EU schaffen.
Die Studie wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung European Union beauftragt.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Anuscheh Farahat
Tel.: 09131/85-26808
anuscheh.farahat@fau.de