Warum bleiben Frauennamen im Minnesang unerwähnt?

Walther von der Vorgelweide ist so bekannt, er zierte sogar schon eine Briefmarke. (Bild: Colourbox.de)
Walther von der Vogelweide, einer der bekanntesten Minnesänger in Deutschland. (Bild: Colourbox.de)

Erklärt von: Prof. Dr. Florian Kragl, Professur für Germanische und Deutsche Philologie

Vor vielleicht 150 Jahren hätten Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte auf diese Frage gesagt: weil es Liebesdichtung an eine verheiratete Dame ist, also Ehebruchslyrik. Auch, weil die unmittelbare kommunikative Situation – der Vortrag an einem Adelshof – klarmacht, wer gemeint ist. Vor 80 Jahren: weil das Ideal der Dame so hoch hängt, dass es von einem konkreten Namen zur realistischen Fratze verzerrt würde. Vor 40 Jahren: weil das alles – die Dame, das Ich des Sängers – nur Rollen sind, die die sozialen Verhältnisse der Feudalgesellschaft spiegeln. Heute: weiß man es so wenig wie schon immer. Die Sache führt aber auf ein Signum des Minnesangs des 12. bis 14. Jahrhunderts hin: Während Catull seine Lesbia, Dante Beatrice und Petrarca Laura haben, ist diese hochmittelalterliche Lieddichtung hyperabstrakt in jeder Hinsicht. Nichts ist da mit Händen zu greifen: nicht die Körper, nicht die personalen Instanzen, nicht weiß man oft, zu wem das singende Ich überhaupt spricht: zu der geliebten namenlosen Dame jedenfalls sehr oft eben nicht, sondern meist nur über sie und seine Liebe zu irgendwem. Die Frage ist damit nicht gelöst aber das mit ihr beschriebene Symptom ist typisch für diese Liebesdichtung, die in der europäischen Literaturgeschichte ihresgleichen sucht.

Unter fau.de/tag/warum finden Sie die weiteren Warum-Fragen, beantwortet von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der FAU.


Das FAU-Magazin alexander

Cover FAU-Magazin alexander 111
Beim Klick aufs Bild öffnet sich das PDF.

Der aktuelle alexander hat unter anderem folgende Themen: 50 Jahre Mondlandung, das Internet – in Gefahr? Artikel 17 der EU-Urheberrechtsreform, Jubiläum am Sprachenzentrum der FAU sowie ein neuer Beitrag aus der Reihe „Besondere Orte an der FAU“ – diesmal über die Sternwarte.

alexander Nr. 111 herunterladen

Ausgewählte Beiträge aus dem alexander können Sie auch online lesen.