Nullen und Einsen
Intelligente Algorithmen können Akten auswerten, Bilder analysieren, Produktionsprozesse automatisieren und bei der medizinischen Diagnostik helfen. Den Menschen werden sie allerdings nicht ersetzen.
von Matthias Münch
Die Frage, wozu intelligente Maschinen fähig sind, ist eines der großen philosophischen, literarischen und cineastischen Themen der vergangenen 100 Jahre. Bereits 1928 entwarf Fritz Lang mit seinem Stummfilm „Metropolis“ ein beängstigendes Szenario: Ein Roboter mit künstlicher Intelligenz wird erschaffen, um eine Revolte der unterdrückten Arbeiter zu verhindern. Auch jüngere Filme wie „Matrix“ oder „Ex Machina“ behandeln den Kontrollverlust der Menschheit und die Gefahren, die von künstlicher Intelligenz (KI) ausgehen können.
Von der Konstruktion einer alles kontrollierenden Maschine sind wir (glücklicherweise) weit entfernt, doch die KI hat in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte gemacht und – für die meisten Menschen überwiegend im Verborgenen – Einzug in viele Bereiche des Alltags und Arbeitslebens gehalten: Suchmaschinen, die aus unserem Nutzungsverhalten lernen, Tools für die Analyse von Akten in der Rechtswissenschaft, Programme zur Bild- und Spracherkennung, Software für die Flexibilisierung der Produktion.
KI-Forschung mit Tradition
An der FAU hat Forschung zu künstlicher Intelligenz (KI), Mustererkennung und maschinellem Lernen Tradition: Bereits 1975 wurde der erste Lehrstuhl für KI eingerichtet, der Grundlagenforschung zur Mustererkennung in den Bereichen Computer Vision, Sprachverständnis und medizinische Bildgebung lieferte. Im Jahr 2017 wurde das Labor für Maschinelles Lernen und Datenanalyse gegründet. Derzeit arbeiten mehr als 60 Lehrstühle und Professuren an wichtigen KI-Themen, unter anderem zu Grundlagen der Mathematik, der Algorithmik, der Berechnung für eingebettete Systeme oder der Datensicherheit. Die Anwendungen beziehen sich nicht nur auf den medizinischen Kontext, das verarbeitende Gewerbe oder die Digital Humanities, sondern befassen sich auch mit übergeordneten Fragen wie ethischen Aspekten der KI. Getreu dem Motto „Wissen in Bewegung“ forciert die FAU ihre Forschung in zahlreichen Kooperationen mit exzellenten Forschungsinstituten und renommierten Industriepartnern – mit Schwerpunkt auf Grundlagen der KI-Forschung und den vier Clustern „Umfassende KI“, „KI in der Medizin“, „KI in der Fertigung“ und „Eingebettete KI“. Die Webseite www.ai.fau.digital gibt einen Überblick über die KI-Forschung an der FAU.
Der Mensch bleibt Experte
Die künstliche Intelligenz birgt viele Chancen, doch es bleiben Ängste – etwa davor, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland bereits heute die Tätigkeiten von 15 Prozent aller Berufe weitgehend durch Computer und Roboter ersetzt werden könnten. Sabine Pfeiffer sieht diese Zahlen kritisch: „Um Arbeitsprozesse automatisieren zu können, müssen sie gut beschreibbar sein. Also werden Tätigkeiten in solchen Statistiken danach unterschieden, wie stark sie routinisiert sind – allerdings sind das Zuschreibungen, die oft nicht stimmen.“ Pfeiffer ist Professorin für Soziologie (Technik – Arbeit – Gesellschaft) an der FAU und erforscht, wie digitale Transformation und Industrie 4.0 die Arbeitswelt verändern. Dafür geht sie zu verschiedenen Branchen – ob Automobilindustrie, Maschinenbau, Softwareentwicklung oder Telekommunikation. Bei ihren qualitativen Erhebungen hat sie festgestellt, dass viele Tätigkeiten keineswegs so routiniert ablaufen wie allgemein angenommen: „Ein Anlagenführer beispielsweise, der acht Roboter überwacht, muss selbst in einer normalen Schicht bis zu 30-mal eingreifen, um eine reibungslose Produktion zu gewährleisten.“
Pfeiffer zufolge werden in der Diskussion um den Einsatz von KI in der Industrie zwei entscheidende Aspekte vernachlässigt: Erstens seien datenlastige Prozesse ohnehin durch IT-Technik abgedeckt – Echtzeitsteuerung und Embedded Systems sind in Produktion und Automobilität längst Realität. „Um neuere Modelle wie Cloud Computing und Big Data herrscht aktuell ein großer Hype, doch wo genau sie in der Produktion einen echten Mehrwert bringen, bleibt oft noch weitgehend nebulös.“ Das entscheidet sich nicht in den Daten, sondern erfordert ganz andere Prozesse im Unternehmen. Problematisch sei auch die Wahl der passenden Algorithmen, die als Open-Source-Programme zwar frei verfügbar seien, deren zugrunde liegendes statistisches Modell jedoch häufig nicht verstanden werde. Pfeiffer: „Am Ende muss der Mensch mit seinem Expertenwissen entscheiden, ob es sich um Datenrauschen handelt oder um sachliche Zusammenhänge.“
Zweitens werde das implizite Wissen der Beschäftigten unterschätzt – jenes Erfahrungswissen also, das wir häufig nicht rational erklären und explizit beschreiben können, das uns jedoch dazu befähigt, in unvorhergesehenen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen. „Die neuere KI versucht, Intuition besser abzubilden und mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, aber der Komplexität der Arbeitswelt ist sie bislang nicht gewachsen, dazu sind die Tätigkeiten einfach zu vielschichtig.“ Dass Arbeitsprozesse im Zuge der Digitalisierung umgestaltet werden, ist unbestritten, aber die Sorge vor einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen teilt Sabine Pfeiffer nicht: „In begrenzten Domänen kann die KI ein hilfreiches Instrument sein, aber sie wird den Menschen nicht ersetzen.“ Arbeitsplätze werden auch in den nächsten Jahren viel häufiger aus anderen Gründen verschwinden, etwa wegen Verlagerung oder konjunktureller Dellen.
Hilfreiche Tools für die Medizin
Einer der wichtigsten Bereiche, in denen die KI bereits heute erfolgreich eingesetzt wird, ist die Medizin. Intelligente Algorithmen sind beispielsweise in der Lage, die Masse medizinischer Publikationen, die weltweit täglich um rund 6000 Beiträge wächst, systematisch zu durchforsten und auszuwerten. Auch bei der Analyse medizinischer Bildgebung zeigt die KI beeindruckende Erfolge: Selbstlernende Computerprogramme sind bei der Diagnose etwa von Brust- oder Hautkrebs heute bereits treffsicherer als ihre menschlichen Pendants.
Wenn es also darum geht, bestimmte Muster in einer Flut von Informationen zu erkennen, ist die KI dem Menschen überlegen. Das wird auch dazu genutzt, um Daten bestimmter Biomarker mit denen unseres Alltagsverhaltens abzugleichen und dadurch auf unseren Gesundheitszustand zu schließen. Neueste Apps und Armbänder könnten etwa die Smartwatch zum Diagnosegerät für Diabetes, Herzrhythmusstörungen oder Schlafapnoe machen. „Generell ist es vorstellbar, dass unser Gesundheitszustand künftig außerhalb von Arztpraxen und Krankenhäusern überwacht wird“, sagt Prof. Dr. Oliver Amft, Inhaber des Lehrstuhls für Digital Health an der FAU.
KI kann uns helfen, gesünder zu leben
Amft beschäftigt sich mit Computeralgorithmen zur Sensordatenanalyse und der Konstruktion sogenannter Wearables, also tragbarer Kleincomputer. Er hat eine Brille entwickelt, die sich optisch kaum von normalen Modellen unterscheidet, aber bis zu 100 verschiedene Biomarker erfassen kann – von der Herzschlagfrequenz über den Atemrhythmus bis hin zur Nahrungsaufnahme. „Die Sensoren im Brillenbügel messen zum Beispiel die Muskelkontraktion und analysieren das Kaugeräusch“, erklärt Amft. „So erhalten wir verlässliche Informationen über das individuelle Essverhalten und sogar über die Art der Speise.“ Aus solchen Daten kann das System Verhaltensempfehlungen etwa für Diabetiker ableiten, zugleich dient es als Unterstützung für die Therapeutik.
Zum Massenprodukt wird die Brille in absehbarer Zeit nicht – im Gegenteil: Die Gestelle werden auf die Anatomie der jeweiligen Person zugeschnitten. Dafür wird beispielsweise der Kopf mit einem Scanner vermessen, damit die Sensoren später perfekt an der Haut und am anatomisch richtigen Ort liegen. Auch die Zahl der Sensoren wird an den jeweiligen Anwendungsfall angepasst, quasi als persönliches Markerset. Damit jedes dieser Einzelstücke wirtschaftlich hergestellt werden kann, bedienen sich Amft und sein Team neuartiger Fertigungsmethoden: Statt per klassischem Spritzguss werden die Brillen im 3D-Druck produziert.
Datenbasierte Modelle mit Expertenwissen kombinieren
Solche Wearables in Verbindung mit Algorithmen der KI können Daten über Verhaltensmuster und Lebensstile liefern, die in der Medizin aktuell noch wenig Berücksichtigung finden. Sie könnten Hilfe bei der Medikamentierung geben und sogar darüber entscheiden, ob Betroffene den Arzt oder die Ärztin für Routineuntersuchungen aufsuchen müssen oder nicht – letztlich auch ein wichtiger Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen.
Soll die KI künftig als verlässliche Entscheidungsunterstützung in der medizinischen Versorgung eingesetzt werden, wird es nicht nur darum gehen, lernende Algorithmen weiterzuentwickeln. „Eine große Herausforderung wird darin bestehen, datenbasierte Modelle mit wissensbasierten Beschreibungen von Expertinnen und Experten zu kombinieren“, sagt Oliver Amft. „Und es muss transparent sein, auf welcher Basis das System zu Entscheidungen gelangt.“
Über den Autor
Matthias Münch studierte Soziologie und arbeitete als freier Journalist bei verschiedenen Tageszeitungen. Seit 2001 unterstützt er Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen bei der Öffentlichkeitsarbeit und Corporate Communication.
FAU-Forschungsmagazin friedrich
Dies ist ein Beitrag aus unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe nimmt Sie mit auf eine Entdeckungsreise ins „Verborgene“: Sie schaut auf für unser Auge unsichtbare, oftmals von uns unbemerkte und vor uns versteckte Dinge. Sie wirft aber auch einen Blick dorthin, wo wir gar nicht hinsehen wollen: auf Tabus.
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