Die Unaussprechlichen
Ob Syphilis, AIDS oder Depression: Über manche Krankheiten wird nicht gesprochen. Warum ist das so? Und können Krankheiten auch entstigmatisiert werden?
von Claus Schäfer
Noch vor hundert Jahren galt unter Venerologen, Spezialisten für Geschlechtskrankheiten, die ungeschriebene Regel, dass man in der Öffentlichkeit niemals Bekannte zuerst grüße: Niemand sollte in den Verdacht geraten, wegen einer stigmatisierenden Krankheit wie Syphilis Bekanntschaft mit dem Venerologen gemacht zu haben. Dieses Beispiel zeige, so Prof. Dr. Karl-Heinz Leven, Direktor des FAU-Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, wie die moralische Bewertung einer Krankheit zu deren gesellschaftlicher Tabuisierung führe.
Dies betrifft vor allem Erkrankungen des Intimbereichs, egal ob sie die Ausscheidungs- oder die Geschlechtsorgane betreffen, in besonderem Maße aber Geschlechtskrankheiten, deren Übertragungswege mit sexuellen Praktiken in Zusammenhang gebracht werden, die von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft moralisch abgewertet werden. Problematisch sind solche Tabus vor allem dann, wenn sie Betroffene daran hindern, professionelle medizinische Hilfe zu suchen. Auf der anderen Seite können Tabuzonen aber auch die Betroffenen und ihre Privatsphären schützen, was das Eingangsbeispiel belege, so Dr. Nadine Metzger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin.
Moderne Gesellschaften haben den Begriff des Tabu aus Polynesien übernommen (siehe Kasten) und seine Funktion auf neue Phänomene übertragen. Diese Tabus verfolgen in der Regel das Ziel, das soziale Handeln den gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Sie beziehen sich daher auf zentrale Werte einer Gesellschaft und werden mit der Zeit zu Selbstverständlichkeiten.
Aufgrund der gesellschaftlichen Festlegung von Tabus können sie auch unterschiedlich verhandelt werden, wie Nadine Metzger am Beispiel der Sexualmoral erklärt. Unterschiede ließen sich nicht nur über die Zeit, sondern auch zwischen Alt und Jung, Stadt und Land und verschiedenen sozialen Schichten ausmachen. Zudem komme es immer auf den Kontext wie das Medium an, in dem über eine Erkrankung gesprochen oder geschrieben wird, so die FAU-Wissenschaftlerin, die über „Konstitutionslehre und Medizintheorie 1910-1930“ habilitiert.
In der Gegenwart sind Themen längst in der Öffentlichkeit angekommen, die in der jüngeren Vergangenheit keinesfalls vor Publikum verhandelt worden wären. Medikamente gegen Verdauungsstörungen wie Durchfall und Verstopfung, Hämorrhoiden oder die als „Harndrang“ getarnte Inkontinenz werden ungeniert in Funk und Fernsehen beworben, die entsprechenden Gesundheitsprobleme treten mehr und mehr aus dem Verborgenen. Aber hat die öffentliche Verhandlung die Erkrankungen wirklich enttabuisiert?
Das Anpreisen nicht verschreibungspflichtiger Selbstmedikation ermöglicht den Erkrankten, sich mit ihrem Leiden an Ärztinnen und Ärzten vorbei direkt an die Pharmaindustrie zu wenden und die mehr oder minder lindernden Erzeugnisse anonym über den Versandhandel zu beziehen. Diese Möglichkeit erspart ihnen die Peinlichkeit, mit Fachkräften über die tabuisierten Beschwerden reden zu müssen.
Was bedeutet das Wort „Tabu“?
Das aus dem Polynesischen übernommene Wort „Tabu“ hatte ursprünglich eine doppelte Bedeutung: Neben dem Unreinen und Unheimlichen bezeichnete es auch das Heilige und Geweihte. Seinem Schutz galt das Tabu nicht nur in Religion und Tradition, sondern auch in der Gemeinschaft und Gesellschaft. Diese Funktion führte zu einer Reihe von zum Teil religiös, aber auch magisch begründeten und allgemein respektierten Meidungsgebote wie dem Verbot, bestimmte Gegenstände oder Personen zu berühren, gewisse Handlungen auszuführen, bestimmte Orte zu betreten oder gewisse Namen auch nur auszusprechen.
Dieses Peinlichkeitsempfinden und die damit verbundenen Schamgefühle erscheinen in der Zivilisationstheorie von Norbert Elias als „Angst vor der Übertretung von gesellschaftlichen Verboten“. Im Zuge des von dem Soziologen analysierten Zivilisationsprozesses würden diese Ängste umso mehr und ausgesprochener den Charakter der Scham erhalten, „je stärker durch den Aufbau der Gesellschaft Fremdzwänge in Selbstzwänge umgewandelt werden“. Eliasʼ These beinhaltet auch, dass seit dem Hochmittelalter die Anzahl von Themen, die der geschützten persönlichen Sphäre zugerechnet werden, stark zugenommen habe.
So gehöre auch die Ausgrenzung und Tabuisierung von Geschlechtskrankheiten nicht nur der ferneren Vergangenheit an, wie Karl-Heinz Leven ausführt. Seit die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Syphilis dank des ersten chemotherapeutischen Medikaments von Paul Ehrlich und noch viel wirkungsvoller mit Penicillin therapierbar wurde, verblasste zwar das mit dieser Krankheit verbundene Tabu. An ihre Stelle trat aber die Immunschwächekrankheit AIDS, die insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren zu heftigen gesellschaftlichen Reaktionen führte. In Unkenntnis des Übertragungsrisikos wurde die Krankheit dämonisiert, und ganze Bevölkerungsgruppen erfuhren eine Stigmatisierung, zumal bald klar war, dass die Übertragung des HI-Virus auf sexuellem Weg erfolgt. Die Tabuisierung von Infektionskrankheiten ist damit nicht nur Schnee von vorgestern, sondern bis in die Gegenwart hinein bedeutsam, wie der Spezialist für Seuchengeschichte ausführt.
Können Krankheiten entstigmatisiert werden?
Solche Stigmatisierungen treffen auch psychische Erkrankungen, wie Prof. Dr. Johannes Kornhuber sagt. Infolge des Gangs in die Öffentlichkeit bekannter Betroffener, etwa nach dem Suizid des Fußball-Torhüters Robert Enke, und besserer Behandlungsmöglichkeiten werden nach Ansicht des Direktors der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik am Universitätsklinikum Erlangen der FAU inzwischen Angsterkrankungen und Depressionen weniger stark tabuisiert als bipolare Störungen oder Schizophrenien. „Die Unterschiede haben viel mit der Unsicherheit gegenüber den Patientinnen und Patienten und der Unkenntnis der Krankheit zu tun“, erläutert Prof. Kornhuber. Werden psychische Erkrankungen für fachfremde Personen nachvollziehbar erklärt, im Idealfall über bildgebende Verfahren sichtbar gemacht, können sie auch entstigmatisiert werden. Wie bei der Depression zum Beispiel, die wohl mit der nachlassenden Neubildung von Nervenzellen im Gehirn zusammenhängt. Antidepressiva regen die Neubildung von Nervenzellen an – ähnlich wie sportliche Aktivitäten oder handwerkliche Tätigkeiten, die eben antidepressive Wirkung haben.
Kein Wunder, dass Prof. Kornhuber Patienten mit depressiven Krankheitsbildern zum Bouldern schickt. Bouldern ist Klettern in geringer Höhe ohne Seil und Haken. Da der zumeist in Hallen betriebene Sport eine Gruppenaktivität ist, holt die körperliche Aktivierung die Patienten aus dem Grübeln, lässt sie fokussieren und ihre Selbstwirksamkeit erfahren. „Der antidepressive Effekt ist beim Bouldern stärker als bei Ausdauersportarten“, fasst Prof. Kornhuber die Forschungsergebnisse an seinem Lehrstuhl zusammen.
An der Erlanger Universitätsklinik werden aber nicht nur neue Behandlungsformen wie die multimodale, nicht-medikamentöse Anti-Demenz-Therapie MAKS entwickelt, sondern es wird auch nach den biochemischen Ursachen der depressiven und anderer neuropsychiatrischer Erkrankungen geforscht. Bei der Entstehung von Depressionen spielen auch bestimmte Fette wie die im Nervengewebe häufig zu findenden bioaktiven Sphingolipide eine Rolle. Sie steuern grundlegende zelluläre Prozesse. Bei depressiven Patientinnen und Patienten zeigt sich eine erhöhte Aktivität der sauren Sphingomyelinase in den peripheren Blutzellen. Das nach dem englischen Ausdruck „Acid Sphingo-Myelinase“ kurz ASM genannte Enzym entpuppte sich als wichtiges Ziel für die antidepressive Medikation. Prof. Kornhuber und sein Team konnten an der FAU zeigen, dass die Hemmung der ASM-Aktivität zu einer Verbesserung von depressionsähnlichem Verhalten führt.
Die neuen Behandlungsmöglichkeiten helfen nicht nur den Patienten, mit einer Depression fertigzuwerden, sondern auch der Gesellschaft, mit den Erkrankten umzugehen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass Depression und affektive Störung weltweit die zweithäufigsten Volkskrankheiten sind.
Über den Autor
Claus Schäfer studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Erlangen und Tours. Nach einem Volontariat bei einer Tageszeitung kehrte er zur Promotion an die FAU zurück. Er war Geschäftsführer des Zentrums für Angewandte Geschichte.
FAU-Forschungsmagazin friedrich
Dies ist ein Beitrag aus unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe nimmt Sie mit auf eine Entdeckungsreise ins „Verborgene“: Sie schaut auf für unser Auge unsichtbare, oftmals von uns unbemerkte und vor uns versteckte Dinge. Sie wirft aber auch einen Blick dorthin, wo wir gar nicht hinsehen wollen: auf Tabus.
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