Späte Brüche – Halten Materialien ewig?

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Stahlfedern können unendlich oft schwingen. Auch Radachsen halten bis in die Ewigkeit. In der Materialforschung galt diese Theorie lange Zeit als gewiss - bis ein ICE entgleiste. (Bild: FAU/David Hartfiel)

Heinz Werner Höppel ist Spezialist für die Ermüdungsprozesse von Materialien

Stahlfedern können unendlich oft schwingen. Auch Radachsen halten bis in die Ewigkeit. In der Materialforschung galt diese Theorie lange Zeit als gewiss – bis ein ICE entgleiste.

von Frank Grünberg

Am 9. Juli 2008 entgleiste ein Intercity Express (ICE) bei der Ausfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof bei niedrigem Tempo. Niemand wurde verletzt. Der Sachschaden war relativ gering. Auch die Wartung war vorschriftsgemäß erfolgt. Dennoch ging der Fall in die Geschichte des Bahnverkehrs ein.

Der Grund: Als Ursache für den Bruch stellten Experten „Einschlüsse unzulässiger Größe“ im Inneren der stählernen Achse fest. „Dieses Schadensmuster war damals völlig neu“, blickt Dr. Heinz Werner Höppel, Privatdozent am Department Werkstoffwissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, zurück. „Späte Brüche wie diesen hatte es bis dahin im europäischen Bahnverkehr nicht gegeben.“

Höppel ist Spezialist für die Ermüdungsprozesse von Materialien. Die Entgleisung des Hochgeschwindigkeitszuges bestätigte einen Verdacht, den Experten wie er schon länger hegten: Die moderne Technik zwingt die Materialforschung dazu, die Lehrsätze der Vergangenheit auf den Prüfstand zu stellen.

Ein Diagramm für die Lebensdauer

Ein zentrales Werkzeug der Materialforschung ist das Wöhler-Diagramm. August Wöhler, Mitglied der Generaldirektion der Reichseisenbahnen, entwickelte im späten 19. Jahrhundert eine später nach ihm benannte Versuchs- und Analyse-Methodik, mit der sich die Lebensdauer von stählernen Bauteilen bei fortdauernden Wechsellasten beschreiben ließ. Bis dahin hatten die Experten keine Unterschiede zwischen der statischen und der dynamischen Beanspruchung von Stahl gemacht. Am 19. Oktober 1875 aber entgleiste auf der Strecke Salzburg-Linz eine Lokomotive, weil ein Radreifen überraschend brach.

Das typische Verhalten von stählernen Bauteilen lässt sich am mehrmaligen Verbiegen einer Büroklammer verdeutlichen. Bei großen Belastungs-Amplituden bricht die Klammer bereits nach wenigen Versuchen. Bei mittleren Amplituden hält sie beträchtlich länger. Und bei geringen Amplituden nimmt sie gar keinen sichtbaren Schaden mehr.

Im Wöhler-Diagramm wird dafür in der senkrechten y-Achse die Belastungs-Amplitude und in der waagerechten x-Achse die Zahl der Wechsellasten aufgetragen. Die resultierende Kurve beschreibt die Lebensdauer eines Bauteils in Abhängigkeit von der Belastung. Im Bereich der „Zeitfestigkeit“ ist die Lebensdauer bei hohen Amplituden gering. Sie wächst aber bei sinkender Belastung. Bei weiter sinkender Belastung mündet die Kurve schließlich in eine Waagerechte. Hier wird eine Grenzamplitude erreicht, unterhalb der man die Klammer unendlich oft verbiegen kann. Experten bezeichnen diesen Wert als „Dauerfestigkeit“.

Die Theorie der Dauerfestigkeit lässt sich verallgemeinern, also auch auf schwingende Federn oder rotierende Wälzlager übertragen. Zahlreiche Versuche zeigten: Im Bereich der Dauerfestigkeit sind typischerweise bis zu zehn Millionen Wechselbelastungen möglich, ohne dass ein Bauteil bricht.

Wechsellasten führen zu Rissen

Mehr als 130 Jahre genügte diese Theorie der Praxis. Schließlich gab es meist keine Bauteile, die höheren Belastungszyklen ausgesetzt waren. Dann aber entgleiste in Köln der ICE. „Damit wurde klar, dass der Bereich der Dauerfestigkeit nicht uneingeschränkt zu höheren Belastungszyklen ausgedehnt werden darf“, erklärt Dr. Höppel. Vielmehr existiere ein Bereich, der durch Späte Brüche gekennzeichnet sei. „Die Regelwerke und Lehrbücher werden daher gerade umgeschrieben.“

Traditionell schauten die Materialforscher lediglich auf die Veränderungen in der Oberfläche, wenn sie nach den Ursachen für Materialermüdung suchten. Die gesicherte Erkenntnis: Durch die Wechsellasten – Verbiegen, Verdrehen, Stauchen oder Dehnen –  treten an der Oberfläche verstärkt plastisch-irreversible Verformungen auf, die zu Rissen und später zum Bruch führen können.

Die neue Erkenntnis aber lautet: Stahl kann auch unterhalb der Grenzamplitude brechen, wenn im Inneren störende Fremdphasen eingeschlossen sind, die beispielsweise bei der Herstellung entstehen. Zwar treten diese Brüche erst sehr viel später auf – typischerweise bei mehr als zehn Millionen Lastwechseln. Allerdings wird diese Grenze durch moderne Technik immer häufiger überschritten, etwa bei schwingenden Folien, die in Mobiltelefonen als Frequenz-Filter dienen, bei Diesel-Einspritzpumpen in langlebigen Lkw-Motoren, oder eben bei den Achsen von modernen Hochgeschwindigkeitszügen. Auch bei neuzeitlichen Wolkenkratzern wirkt sich das Wissen um Späte Brüche inzwischen auf die Dimensionierungsvorgaben des Stahlgerüstes aus.

Im Falle des entgleisten ICE ließ sich die Belastung anhand der Rahmenbedingungen – etwa der gefahrenen Kilometer, der Höchstgeschwindigkeit und der Geometrie der Räder und Achsen – sehr genau nachvollziehen. „Diese Erkenntnisse haben dazu geführt“, erklärt Höppel, „dass heute sehr viel mehr darauf geachtet wird, bei der Herstellung so wenig Fremdphasen wie möglich im Stahl der Achsen einzuschließen.“

Prüftechnik für sehr hohe Lebensdauerbereiche

Materialwissenschaftler erforschen den Bereich der sehr hohen Lastwechsel schon seit mehr als 20 Jahren. In dieser Zeit entwickelten sie auch eine geeignete Prüftechnik, die in der Lage ist, mit vertretbarem Zeitaufwand in sehr hohe Lebensdauerbereiche von bis zu zehn Milliarden Lastwechseln vorzudringen.

Höppel und seine Kollegen beispielsweise betreiben dafür an der FAU in Erlangen eine einzigartige Ultraschall-Ermüdungs-Versuchsanlage, die erstmals aussagekräftige Messwerte über den langfristigen Schädigungsverlauf im Inneren einer stählernen Probe lieferte. Im Zuge der weiteren Grundlagenforschung will Höppel diese Erkenntnisse nun auf andere Materialien übertragen, um das Grundlagenwissen zu vertiefen und die Prognose-Modelle zu verbessern (siehe Kasten auf Seite 80 unten).

Ob er trotz des noch relativ jungen Wissens um die Entstehung von Späten Brüchen noch an die einst postulierte ewige Haltbarkeit von Materialien glaube? „In der Theorie ist das nach wie vor möglich“, sagt der Experte. „In der Praxis aber bleibt die Lebensdauer begrenzt. Denn wahrscheinlich wird es niemals Produktionsprozesse und Einsatzbedingungen geben, bei denen man die Entstehung von inneren Defekten komplett ausschließen kann.“

Die Ultraschall-Ermüdungs-Versuchsanlage am Department Werkstoffwissenschaften misst den Energieeintrag bei jedem Lastwechsel. (Bild: FAU/Erich Malter)

Der Ermüdungsprozess von Stahl spiegelt sich im energetischen Aufwand, der benötigt wird, um ein Bauteil über viele Millionen Lastwechsel hinweg zyklisch zu verformen. Steigt der Energieaufwand im Laufe des Versuchs an, haben im Inneren irreversible Verformungsprozesse stattgefunden, die zur Entwicklung von inneren Defekten führen können. Lässt sich diese energetische Veränderung in Abhängigkeit der Lastwechsel messen, kann man daraus unter Einbeziehung weiterer Grundzusammenhänge den Zeitpunkt bestimmen, wann das Bauteil wohl endgültig bricht. Aus diesem Grund wurde an der FAU vor einigen Jahren die erste Ultraschall-Ermüdungs-Versuchsanlage in Betrieb genommen, die den Energieeintrag bei jedem Lastwechsel messen kann. Damit wurde es möglich, den Ermüdungsprozess bis in den Bereich der Späten Brüche hinein quantitativ nachzuvollziehen. Die typische Versuchsreihe sieht aus wie folgt: Eine Piezo-Keramik, die elektronisch angesteuert wird, bringt den Prüfkörper mit einer Frequenz von rund 20 Kilohertz zum Schwingen. Innerhalb von 50 Sekunden finden damit eine Million Lastwechsel statt. Den Bereich der Späten Brüche (rund eine Milliarde Lastwechsel) abzuprüfen, dauert im Idealfall nur rund 14 Stunden.

In dieser Zeit wird der Energieeintrag, der notwendig ist, um eine definierte Amplitude konstant zu halten, regelmäßig gemessen. Sobald der Energieaufwand steigt und die Veränderung über einem materialspezifischen Grenzwert liegt, wird die Probe versagen. Wiederholt man den Versuch mit einer kleineren Amplitude, steigt der Energieaufwand weniger stark an. Dieses Vorgehen wird so lange wiederholt, bis sich der Energieaufwand nicht mehr signifikant erhöht. „Spätestens dann haben wir offenbar die Grenzamplitude erreicht, ab der die Probe langfristig nicht mehr bricht“, sagt Dr. Heinz Werner Höppel, Privatdozent am Department Werkstoffwissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Bislang haben er und sein Team die Ermüdungsprozesse von vier Stählen mit unterschiedlichen

Kohlenstoffgehalten mit dieser Methode intensiv getestet. Das Ergebnis: Alle Stähle wiesen trotz ihrer unterschiedlichen Struktur den gleichen Grenzwert für den Energieeintrag auf, ab dem keine Ermüdungsbrüche mehr festgestellt werden konnten. „Das entsprach der Erwartung“, sagt Höppel. Für Stahl scheinen die Modelle demnach gut zu funktionieren. „Auf dieser Grundlage geht es nun darum zu prüfen, ob sie sich auch auf andere Materialien wie Aluminium- oder Nickel-Legierungen übertragen lassen.“ Ziel ist es, die Ermüdungsprozesse insgesamt besser zu verstehen und die Prognosen zu verfeinern. Von dieser Grundlagenforschung könnte in Zukunft beispielsweise die Automobilindustrie profitieren. Eine der wesentlichen Voraussetzungen für energieeffiziente Fahrzeuge sind Fahrwerke und Karosserien aus leichten Materialien. Da man deren dynamisches Langfristverhalten heute nicht exakt vorhersagen kann, werden die Konstruktionen meist mit zusätzlichem Material verstärkt, was allerdings das Gewicht erhöht. „Unsere Forschung soll helfen“, sagt Höppel, „die Querschnitte auf das notwendige Maß zu verringern, ohne dass Komfort und Sicherheit darunter leiden.“


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Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?

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