Können wir Unendlichkeit verstehen?
Unendlichlichlich
Können Menschen das Konzept Unendlichkeit verstehen? Ein Gespräch zwischen der Mathematikerin und dem Theologen.
Interview: Elke Zapf
Dieser Begriff übersteigt alles Vorstellbare“, sind sich Prof. Dr. Christina Birkenhake vom Department für Mathematik und Prof. Dr. Wolfgang Schoberth vom Lehrstuhl für Systematische Theologie I einig. Beide befassen sich mit dem Thema Unendlichkeit – gehen dies aber durchaus unterschiedlich an.
Was verstehen Sie als Mathematikerin unter Unendlichkeit? Und wie definieren Sie das als Theologe?
Prof. Dr. Christina Birkenhake: Das Wort „unendlich“ entsteht durch eine Verneinung aus dem Wort „endlich“. Wenn wir also dem Begriff der Unendlichkeit näherkommen wollen, müssen wir uns zunächst mit dem Endlichen beschäftigen, und dieses bezieht man dann auf ein Sachgebiet – auf einen Ort, eine Zeit, eine Qualität, eine Tätigkeit oder eine Menge. Und damit sind wir bei der Mathematik. Sie ist eine der ältesten Wissenschaften und beschäftigt sich schon immer mit großen Fragen: mit der Beschreibung des Himmels und der Erde, mit den Gesetzmäßigkeiten der Zahlen und der Geometrie, mit der Endlichkeit und der Unendlichkeit. Allerdings wurde das Unendliche über Jahrtausende nicht als existent für möglich erachtet. Erst vor gut 100 Jahren wurde dieser Gedanke zugelassen – und seitdem gibt es in der Mathematik sehr viele Unendlichkeiten.
Prof. Dr. Wolfgang Schoberth: Der Begriff der Unendlichkeit ist philosophischen Ursprungs und hat übrigens kein genaues Äquivalent in der Bibel. Hier ist vielmehr die Rede von der Ewigkeit, die Geheimnis und Hoffnung zugleich zur Sprache bringt. Die klassische Metaphysik dagegen fragt generell nach der höchsten Form und ersten Grundlage allen Seins. Unendlichkeit steht dabei – grob gesagt – für all das, was jenseits unserer Bestimmungen liegt und jenseits der Grenzen unseres Denkens. Die damit verbundenen Erfahrungen finden freilich ihren deut-
lichen Niederschlag in der Schrift und der theologischen Tradition: Die Erfahrung Gottes ist mit dem Bewusstsein für die Grenzen unseres Denkens und unserer Welt eng verbunden.
Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Ihren Definitionen?
Schoberth: Wir fangen an unterschiedlichen Stellen an und gehen mit unterschiedlichen Methoden an die Phänomene heran. Theologisches Arbeiten ist immer auf Selbsterfahrung bezogen, die in einem anderen Verhältnis zur Wirklichkeit steht als wissenschaftliche Arbeit. Denn wir beziehen auch Stimmungen, Atmosphären und Gefühle mit ein.
Birkenhake: Und genau darum geht es bei uns im Endeffekt nicht. Auch in der mathematischen Forschung spielen zwar Intuition und Ästhetik eine große Rolle, die Ergebnisse müssen dann aber streng mathematisch, logisch und objektiv bewiesen werden. Zwangsläufig stößt man beim Umgang mit der Unendlichkeit immer wieder auf Paradoxien und Antinomien, und es stellt sich die Frage, wie man am besten damit umgehen kann, und wie man am besten diese Phänomene beschreiben kann.
Warum beschäftigen sich gerade Ihre beiden Wissenschaften mit diesem Phänomen?
Birkenhake: Sowohl die Theologie als auch die Mathematik haben ihre Ursprünge in der Philosophie, und beide versuchen, an die Grenzen zu gehen. Schon im antiken Griechenland beschäftigte sich die Wissenschaft intensiv mit der spannenden Frage nach der Unendlichkeit. Nehmen Sie Platon oder Aristoteles, deren Überlegungen uns bis heute faszinieren.
Schoberth: Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es ohnehin selbstverständlich, in vielen Wissenschaftsbereichen tätig zu sein. Nehmen Sie zum Beispiel Gottfried Wilhelm Leibniz. Er wirkte als Philosoph, Jurist, Historiker, Naturwissenschaftler und Theologe, aber auch als Mathematiker und Techniker – er war also der klassische Universalgelehrte. Heute ist die Wissenschaft sehr ausdifferenziert, zum Teil sind wir ganz erstaunt, womit sich die Kollegen beschäftigen. Die Theologie befasst sich schon seit der Antike mit dem philosophischen Begriff der Unendlichkeit und hat sich immer an dem Thema gerieben.
Birkenhake: Erst Georg Cantor führte Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff der Unendlichkeit wirklich ein und lieferte damit ein Fundament der modernen Mathematik. Er gilt als Begründer der Mengenlehre und entwickelte einen neuen Begriff der Unendlichkeit.
Schoberth: Er konstruiert damit sozusagen einen neuen Begriff; was traditionell das Unendliche genannt wurde, bezeichnet er als das Absolute, das unerkennbar ist.
Umgangssprachlich verwenden wir den Begriff gerne als Superlativ. Wie sehen Sie das als Wissenschaftler?
Birkenhake: Ja, der Begriff Unendlichkeit wird umgangssprachlich gerne als Steigerungsform, als ultimativer Superlativ verwendet. Denken Sie nur an Ausdrücke wie „Das ist unendlich weit weg“ oder den Bestseller „Die unendliche Geschichte“. Natürlich steckt viel mehr in dem Begriff der Unendlichkeit, aber das können die meisten Menschen nicht erfassen. Warum sollten sie auch? Man kann sehr gut leben, ohne sich diese Gedanken zu machen…
Können wir als Menschen Unendlichkeit überhaupt verstehen?
Schoberth: Ich glaube, es gehört ganz generell zu dem Begriff dazu, dass er das Vorstellbare übersteigt. Das ist ja gerade das Spannende daran. Mit der Unendlichkeit kommen wir an eine Grenze des Denk- und Vorstellbaren – und das wiederum ist sinnkonstitutiv. Denn wir müssen uns fragen, wie wir uns in einer Welt orientieren, die zum Teil durchschaubar ist, zum Teil aber auch nicht. Wie kann ich mich in dem Meer dessen, was ich nicht erfassen kann, bewegen? Wie gehen wir innerhalb dieser Grenzen mit unseren eigenen Grenzen um? Was kommt jenseits meiner eigenen Endlichkeit?
Birkenhake: Auch als Mathematikerin kann ich mir etwas Höherdimensionales oder gar Unendlichkeit nicht wirklich vorstellen. Man macht sich ein geistiges Bild, das doch immer den uns bekannten räumlichen drei Dimensionen ähnelt. Aber man kann mit der Unendlichkeit sehr wohl rechnen, man sollte wohl besser sagen argumentieren, und damit wird der Begriff Unendlichkeit entmystifiziert.
Eigentlich passiert das schon in der Schule: Eine Gerade erklärt man als sich bis ins Unendliche fortgesetzt, ohne dass jemand protestiert, in der Infinitesimalrechnung arbeiten wir mit der potenziellen Unendlichkeit, und die Zahlen, besser die Menge der Zahlen, an sich ist unendlich. Aber das, die Theorie der unendlichen Mengen und der transfiniten Kardinalzahlen, führt dann beim genaueren Betrachten schnell über das Vorstellbare hinaus.
Die Mathematik spricht von verschieden großen Unendlichkeiten. Was kann ich mir darunter vorstellen?
Birkenhake: Fangen wir mit dem an, was wir uns alle noch vorstellen können. Das sind die natürlichen Zahlen, die wir schon als Kinder lernen. Die Kleinen können sich Zahlen von eins bis zehn gut vorstellen, die Erwachsenen gehen heutzutage tagtäglich mit astronomisch großen Zahlen um, auch wenn man sich die dann wohl auch nicht wirklich vorstellen kann. Zu jeder natürlichen Zahl können wir immer noch eine weitere addieren – und schon sind wir bei der ersten Stufe von Unendlichkeit. Die Kardinalität – also die Maßzahl der Menge dieser uns allen doch scheinbar so vertrauten natürlichen Zahlen – bezeichnete Cantor mit Aleph 0 – die erste transfinite Zahl! Mit Aleph 0 tat Cantor den ersten Schritt über das Endliche hinaus in die Welt der transfiniten Zahlen Aleph 0, Aleph 1, Aleph 2,… So wie mit diesen transfiniten Zahlen viele mathematische Probleme nun behandelt werden können, so tun sich aber auch immer neue Fragen auf.
Gibt es in allen Religionen die Verknüpfung von Unendlichkeit mit Gott?
Schoberth: Das Wesen des Unendlichen ist insbesondere ein Thema der Metaphysik – aber nicht nur sie stellt die Fragen nach dem Jenseits unserer Erfahrung. Alle Religionen wollen wissen „Wo kommen wir her?“, „Wo gehen wir hin?“, „Was gibt unserem Leben und Handeln Sinn?“ und finden andere Bilder für das, was jenseits unserer Grenzen liegt. Und jede Religion entwickelt andere Praktiken, um der Unendlichkeit näherzukommen – Meditieren, Yoga, Beten. In der Geschichte der christlichen Theologie ist die Unendlichkeit eines der Attribute Gottes – die Schöpfung dagegen ist ihrem Wesen nach endlich.
Der friedrich – das Forschungsmagazin der FAU
Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.