Transparenz mit Zimtaroma
Anders als bislang vermutet, sind unsere Knochen von tausenden Adern und Venen durchzogen. Entdeckt haben das Biologen und Mediziner der FAU und der Uni Duisburg-Essen.
Als Dr. Anika Grüneboom die Mikroskop-Aufnahmen des Unterschenkelknochens einer Maus betrachtet, sieht sie, dass er von hunderten Poren durchzogen ist. Bestätigt das ihren Verdacht? Die Biologin ist der Frage auf der Spur, auf welchem Weg die weißen Blutkörperchen, die eine zentrale Rolle in unserem Immunsystem spielen, vom Knochenmark zur Knochenhaut und damit in die Blutzirkulation gelangen können. Bislang ging man davon aus, dass ein Röhrenknochen zwar einen geschlossenen Blutkreislauf besitzt, allerdings mit sehr wenigen arteriellen Zu- und venösen Abflüssen – eigentlich unzureichend für den schnellen Transport der Immunzellen. „Wir haben vermutet, dass dieses gängige Blutgefäßschema überholt ist, zumal ja nicht nur Immunzellen, sondern generell frische Blutzellen im Knochenmark gebildet werden“, sagt Grüneboom. „Mit dem Röntgenmikroskop konnten wir das nicht beweisen, da sich damit lediglich der feste Knochen darstellen lässt. Wir konnten zwar Kanäle und Poren im Knochen erkennen, aber keine Aussage treffen, ob diese durchblutet sind.“
Backzutat verschafft Durchbruch
Zu dieser Zeit arbeitete Anika Grüneboom als Doktorandin an der Universität Duisburg-Essen. Im Rahmen eines DFG-Projekts forschte die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Matthias Gunzer in Essen gemeinsam mit der Medizinischen Klinik 3 – Rheumatologie und Immunologie des Uni-Klinikums Erlangen nach neuen Wegen, entzündliche Immunreaktionen des menschlichen Körpers zu behandeln. „Um wirksame Therapieverfahren gegen solche Entzündungen entwickeln zu können, bedarf es zunächst eines grundlegenden Verständnisses von Signal- und Transportwegen unserer Immunabwehr“, erklärt Anika Grüneboom. „Und dabei spielen die Knochen eine entscheidende Rolle.“
Was also hatte es mit den Poren auf sich? Da das Röntgenmikroskop nicht weiterhalf, musste ein neues Bildgebungsverfahren gefunden werden. Am erfolgversprechendsten schien die sogenannte Lichtblattmikroskopie — ein fluoreszenzmikroskopisches Verfahren, bei dem in der Regel eine dünne Schicht der Probe beleuchtet wird. Einen ganzen Knochen könnte man auf diese Weise nicht untersuchen, es sei denn, er wäre transparent. Also entwickelten Anika Grüneboom und ihre Kollegen eine Methode, Knochen durchsichtig zu machen. „Bekannt war, dass die Zellstrukturen von Gewebeproben mittels chemischer Verbindungen transparent und somit optisch zugänglich gemacht werden konnten“, erzählt sie. „Für die harte Knochenrinde bedurfte es aber einer speziellen Probenbehandlung, die bis dahin nicht verfügbar war.“ Und die fanden die Forscher in einer Flüssigkeit, die eigentlich als Aroma für Weihnachtsgebäck verwendet wird: Zimtsäureethylester.
U-Bahn-Netz im Knochen
Das Ergebnis war nicht nur verblüffend, es kam einer Sensation gleich: Die Forscher stellten fest, dass der präparierte Unterschenkelknochen auf seiner gesamten Länge von hunderten Kapillaren durchzogen war, die das Knochenmark direkt mit der äußeren Knochenhaut verbanden. Spätere Untersuchungen des Blutflusses am lebenden Organismus zeigten, dass durch diese Kapillaren der weitaus größte Teil sowohl des arteriellen als auch des venösen Blutes fließt – und nicht durch die wenigen großen Gefäße, die der Wissenschaft seit längerem bekannt sind. Die Forscher tauften diese winzigen Kanäle „Transkortikalgefäße“, weil sie die Kortikalis, die kompakte Knochenrinde, durchdringen. Grüneboom: „Die Transkortikalgefäße haben die wichtige Aufgabe, den Knochen mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Außerdem gelangen über dieses Netzwerk die im Knochenmark gebildeten Immunzellen schnell in den Blutkreislauf – wie bei einem U-Bahn-System, mit dem viele Passagiere rasch und ohne Umwege durch Barrieren transportiert werden.“
Lichtblatt-Untersuchungen von Knochenfragmenten und Aufnahmen lebender Knochen mit einem neuartigen Magnetresonanztomographen haben inzwischen bestätigt, dass auch wir Menschen über solche Transkortikalgefäße verfügen. Diese Entdeckung könnte fundamental für das Verständnis von Immunreaktionen und Knochenwachstumsprozessen sein: So konnten die Forscher um Prof. Dr. Georg Schett an der Medizinischen Klinik 3, an der auch Anika Grüneboom seit 2017 arbeitet, bereits zeigen, dass Patienten, die an Osteoporose leiden, weniger Blutgefäße in ihrer Knochenrinde haben als gesunde Menschen. Bei Arthritis-Patienten wiederum kommt es zu einer verstärkten Ausbildung von Transkortikalgefäßen. Auch die Frage, ob die mit zunehmendem Alter schwächer werdende Immunabwehr mit der Zahl der Blutgefäße im Knochen zusammenhängt, wollen die FAU-Forscher künftig beantworten. Dafür möchte Anika Grüneboom mit einer eigenen Arbeitsgruppe herkömmliche Bildgebungsverfahren verfeinern und gemeinsam mit Immunologen und Informatikern der FAU sowie Physikern des Helmholtz-Zentrums Berlin ein neues Mikroskop entwickeln, das die Untersuchung des Blutflusses im Knochen lebender Menschen erlaubt.
Das FAU-Magazin alexander
Dieser Text erschien zuerst in unserem Magazin alexander. In der Ausgabe Nr. 110 blicken wir auf 100 Jahre WiSo zurück, durch Knochen hindurch und auf Fremd- und Selbstbilder. Außerdem geht es um Lehrförderung, Öl-Magneten und lebensgefährlichen Aberglauben.