Mord am Wort?
Wie sich Sprachen und Dialekte wandeln
Sprachen und Dialekte sterben. Für Wissenschaftler ist das ein ganz natürlicher Prozess. Aber oft wandeln sie sich nur. Und manchmal entstehen sogar neue Sprachen.
von Gesa Coordes
„Wischkästla“ ist ein fränkisches Wort, das sogar Jugendliche cool finden. Das prägnante Synonym für das geliebte Smartphone zeigt, dass auch die angeblich so altmodischen Dialekte bis heute neue Wortschöpfungen hervorbringen können. Das „Wischkästla“ wurde sogar zum „oberfränkischen Wort des Jahres 2015“.
In der Jury sitzt auch Sprachwissenschaftlerin PD Dr. Almut König von der FAU. Dort arbeitet sie als wissenschaftliche Redaktorin an dem Projekt „Fränkisches Wörterbuch“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das von Prof. Mechthild Habermann geleitet wird. Dahinter verbergen sich mehr als 100.000 handschriftlich ausgefüllte Fragebögen, die bei Dialektsprechern in den vergangenen 105 Jahren gesammelt wurden. Königs Hauptaufgabe: Aufbau eines der ersten dialektalen Online-Wörterbücher Deutschlands. Das digitale Nachschlagewerk ersetzt die mühsame Recherche im Archiv – bereits jetzt kann nach Orten und Begriffen gesucht werden.
Dabei stammt die Sprachwissenschaftlerin zwar aus einem Weiler in der Nähe des 2000-Seelen-Städtchens Fladungen in der Rhön, den Dialekt der Region spricht sie allerdings nicht wirklich. Ihre Vorfahren kamen aus Thüringen und Bremen. Die unterfränkische Mundart lernte sie erst in der Grundschule kennen, wo – mit Ausnahme der Kinder der Grenzpolizisten – alle Platt sprachen. Daher war ihr das Fränkische „schon lange im Ohr“. Und offenbar auch auf der Zunge: „Wenn ich mit meinen Klassenkameraden spreche, ist das für die das reinste Hochdeutsch“, erzählt sie. „Aber wenn ich auf eine Tagung fahre, erkennen manche Kollegen sogar den Rhöner Zungenschlag.“
21 Jahre hat sie für den Sprachatlas von Unterfranken und für das unterfränkische Dialektinstitut gearbeitet, zahlreiche Sprecher interviewt und die Mundart ganz grundsätzlich untersucht. Dialekt geht nämlich nicht wild durcheinander, sondern lässt sich systematisch beschreiben, berichtet Almut König, die über den Dialekt junger Erwachsener in Unterfranken habilitierte.
Dass sich viele Menschen für die Mundart interessieren, hat sie immer wieder festgestellt. Auch das angebliche Sterben der Dialekte war dabei oft Thema. Tatsächlich verschwinden die Ortsdialekte, berichtet die Expertin. Heute ist es kaum mehr möglich, an wenigen Wörtern zu erkennen, ob ein Mensch aus Unterfilke oder Oberfilke stammt. Weil die Familien durch Schule, Arbeit und Freizeit einen größeren Radius haben, geht der Trend zur großräumiger angelegten Regionalsprache.
Die Mundart schwächelt auch in Ortschaften, in denen viele Menschen abwandern. In der Rhön zum Beispiel, wo König viele Dialektsprecher interviewte, sind die Platt sprechenden Großeltern in den Dörfern zurückgeblieben. Unterdessen leben Kinder und Enkel längst in Frankfurt oder München. Dort sprechen sie in der Regel Hochdeutsch mit ihren Kindern.
Werbung haucht Dialekten neues Leben ein
Wo die Wirtschaft boomt, leben die Dialekte, sagen die Sprachwissenschaftler. Deshalb weitet sich das Südhessische – das ursprünglich eher Frankfurterisch war – immer weiter aus, während das osthessische Idiom rund um Fulda zurückgeht. Zu einer Stadt wie Berlin gehört das Berlinerische einfach dazu, sagt König. Und die wirtschaftlich starken Schwaben haben das Phänomen sogar zu einem Werbespruch gemacht. „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“, sagen sie selbstironisch. Am Dialekt lasse sich ablesen, wie verbunden man sich seiner Heimat fühle, erklärt Almut König: „Wenn sich die Menschen mit ihrem Ort identifizieren und die Gemeinschaft funktioniert, erhält er sich.“
Die Franken sind insgesamt durchaus selbstbewusst und stolz auf ihren Dialekt, berichtet sie. Besonders deutlich ist dies in Regionen wie Nürnberg, Miltenberg und Aschaffenburg. Dort sprechen auch viele junge Leute das Idiom ihrer Region. Selbst die Ortsnecknamen erhalten eine positive Wendung. Die Wörter, mit denen die Unterfranken einst über die Bewohner der Nachbarorte spotteten, benutzen die Verspotteten nun zur Selbstdarstellung. Und freuen sich darüber, aus der Heimat der Linsenspitzer, Zwiebeltreter, Sandhasen oder Gerstenesel zu kommen.
Selbstverständlich nutzt dies auch die Werbung. Wer in Nürnberg aus dem Zug steigt, kann auf Plakaten lesen: „Nix Schenners als wie’s Obbernhaus.“ Der Werbespruch soll auch Besucher abseits des Bildungsbürgertums zu Oper und Operette locken. Politiker wissen längst um die Werbemacht der einheimischen Sprache. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt baute bei Wahlkämpfen in Norddeutschland immer wieder Passagen in Plattdeutsch in seine Reden ein. Auch CDU-Politiker Norbert Blüm pflegte seinen rheinfränkischen Dialekt. Damit wollten die Politiker sagen: „Ich bin einer von euch“, erklärt Almut König. Das Fränkische, so viel kann die Wissenschaftlerin zusammenfassend sagen, ist jedenfalls nicht weg, „nur anders“.
Wörter toter Sprachen leben in anderen Sprachen weiter
Wie es kommt, dass Sprachen durch andere ersetzt werden, und wie der Sprachwechsel funktioniert, hat die FAU-Professorin Silke Jansen an einem von Franken weit entfernten Beispiel ergründet. Die Romanistin, deren Großeltern noch westfälisches Platt sprachen, zog als Gastwissenschaftlerin nach Hispaniola, der zweitgrößten Insel in der Karibik. Diese Insel teilen sich Haiti und die Dominikanische Republik. Auf Haiti wird heute Französisch und Kreol gesprochen, in der Dominikanischen Republik Spanisch.
Auf der Karibikinsel analysierte sie die heute ausgestorbene Sprache der Taíno. Auf dieses Volk, dessen Sprache zur Arawak-Familie gehörte, stieß Christoph Kolumbus 1492 bei seinen ersten Begegnungen mit den Bewohnern Amerikas. Ohne die indigenen Ackerbauern hätten die Entdecker auf dem Archipel zunächst kaum überleben können. Kolumbus schilderte sie als unschuldig, friedfertig und äußerst freigiebig. Auf ihrem Siedlungsgebiet errichtete er die erste Kolonie Spaniens in Amerika. Doch von den auf damals 300.000 Menschen geschätzten Taínos waren aufgrund von Selbstmord, Zwangsarbeit und eingeschleppten Seuchen schon 1533 nur noch wenige Hundert übrig. Ihre Sprache gilt seit Mitte des 16. Jahrhunderts als ausgestorben.
Dennoch haben sich viele heute noch bekannte Wörter aus dieser vor knapp 500 Jahren verschwundenen Sprache in der ganzen Welt verbreitet: Zu den bekanntesten zählen maíz (Mais) und batata (Süßkartoffel), – Pflanzen, die Entdecker und Siedler dringend für ihre Ernährung brauchten. Aber auch Tabak (tobaco), Hurrikan (huracán), Kanu (canoa), Kaiman (caimán) und Barbecue (barbacoa) wurden ins Spanische übernommen. Und eine Erfindung der Taínos wird bis heute weltweit benutzt: die Hängematte. Das spanische Wort „hamaca“ stammt aus der Taíno-Sprache.
„Im Verhältnis zur Größe der Gruppe hat das Taíno das Spanische in Amerika und sehr viele Sprachen sehr intensiv beeinflusst“, sagt Jansen, die das Idiom aus alten Dokumenten rekonstruierte. Die Wörter verbreiteten sich über die Berichte der Seefahrer und der Chronisten, wurden zunächst ins Spanische, später auch in anderen Sprachen übernommen. Die Europäer hatten sich mit den Inselbewohnern verständigen müssen, um sich in der „Neuen Welt“ zurechtzufinden und Handel zu treiben.
Mit den Sklaven entstand eine neue Sprache
Auch die weitere politische und sprachliche Geschichte der Insel blieb spannend. Ab 1503 wurden Afrikaner als Sklaven nach Hispaniola verschleppt. Als der Westteil der Insel 1697 an Frankreich fiel, gab es einen massiven Aufschwung der Sklaverei. Die Sklaven wurden vor allem auf den Zuckerrohrplantagen der Franzosen im heutigen Haiti ausgebeutet.Und das ist der Grund, warum in diesem Land eine neue Sprache entstand.
Damit sich die aus verschiedenen Regionen Afrikas stammenden Sklaven untereinander und mit ihren französischen Aufsehern auf den Plantagen verständigen konnten, bildeten sie auf der Grundlage des Französischen eine neue Sprache. Deren Worte stammen zum allergrößten Teil aus dem Französischen – mit wenigen Einflüssen westafrikanischer und indigener Sprachen. Aussprache und Grammatik sind jedoch weit von der ehemaligen Kolonialsprache entfernt. Das Haiti-Kreol ist seit 1985 zweite Amtssprache und wird von zehn Millionen Menschen gesprochen, also der gesamten Bevölkerung Haitis. Nur ein kleiner Teil beherrscht die französische Sprache. Selbst im US-amerikanischen Miami Dade, wo es eine große haitianische Minderheit gibt, zählt dieses Kreol neben Englisch und Spanisch zu den offiziellen Sprachen.
Das im Westteil der Insel gelegene Haiti gehört heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Auf der Suche nach Arbeit ziehen daher viele Haitianer in das Spanisch sprechende Nachbarland. Ihre kreolische Muttersprache legen sie dort meist schnell ab – schon die zweite und dritte Generation der Einwanderer kann in der Regel besser Spanisch als Kreolisch. Das hängt mit dem starken Assimilationsdruck zusammen, so Jansen. Die dunkelhäutigeren Haitianer sind in der katholisch geprägten Dominikanischen Republik nicht gut angesehen und müssen häufig Diskriminierungen erleiden. Um in ihrer neuen Lebenswelt besser zurechtzukommen und nicht benachteiligt zu werden, sprechen viele Migranten bewusst Spanisch mit ihren Kindern. Bislang ist das Haiti-Kreol in der eigentlich Spanisch sprechenden Dominikanischen Republik trotzdem „ziemlich vital“, berichtet die Forscherin: „Das liegt daran, dass immer wieder Migranten und damit neue Sprecher nachkommen.“
Das gilt allerdings nicht für eine Varietät des Haiti-Kreols, die auf der Halbinsel Samaná im Nordosten der Dominikanischen Republik gesprochen wird. Mitgebracht wurde sie wahrscheinlich von Sklaven, die sich während und nach der haitianischen Revolution 1791 mit ihren französischen Plantagenbesitzern an den grünen Berghängen der Halbinsel niederließen. Weitere Einwanderungsbewegungen, die besonders während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfanden, trugen zur anhaltenden Vitalität der Varietät bei. Heute beherrschen nur noch schätzungsweise 50 bis 100 Menschen dieses Kreol, das sich unter anderem durch den Sprachkontakt zum Spanischen vom Kreol in Haiti unterscheidet.
Die letzten Sprecher ihrer Sprache
Darüber promoviert die FAU-Romanistin Jessica Barzen, die bei ihren Aufenthalten zwischen 2013 und 2015 auf der Halbinsel die vermutlich letzten Sprecher des Samaná-Kreols interviewte. Einige ihrer 31 Informanten sind ehemalige Feldarbeiter, die in den Dörfern des Hinterlandes leben. Manche verdienen ihren Lebensunterhalt aber auch im wachsenden Tourismus – etwa als Reisebusfahrer oder Verkäufer am Strand. Das Durchschnittsalter der Interviewten liegt bei 67 Jahren. Von ihnen beherrschen gerade die älteren Sprecher das Kreol besser und verwenden es öfter. „Ich vermute deshalb, dass dies die letzte
Generation der Sprecher ist“, sagt Barzen. Während die Informanten das Samaná-Kreol nämlich vor allem mit gleichaltrigen Freunden und Familienangehörigen verwenden, unterhalten sie sich mit ihren Kindern nicht auf Kreol, sondern auf Spanisch.
„Die Haitianer und ihre Sprache sind in der Dominikanischen Republik stark stigmatisiert“, erklärt Barzen. Deswegen sei es ihren Informanten sehr wichtig, als Dominikaner angesehen zu werden. Das Kreol habe kein Prestige, und sein ökonomischer, kultureller wie sozialer Nutzen sei zu gering, um es an die nächste Generation weiterzugeben. Schrifttraditionen gebe es innerhalb dieser Gemeinschaft ohnehin nicht. Damit handelt es sich – so Barzen – um eine „charakteristische Sprachtod-Situation“.
Ihre Doktormutter Silke Jansen sieht das eigentliche Problem nicht im Sprachensterben an sich: „Natürlich ist sprachliche Diversität schön und faszinierend“, sagt sie. Aber statt den Tod von Sprachen pauschal zu beklagen, solle man lieber nach den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, der gesellschaftlichen Diskriminierung und den Machtverhältnissen fragen, die in mehrsprachigen Gesellschaften herrschen: „Sie sind es, die Sprecher dazu bewegen, ihre Sprache aufzugeben“, sagt die Forscherin.
Der friedrich – das Forschungsmagazin der FAU
Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.