Wie krank sind wir wirklich?
FAU-Professor Thomas Kühlein über den Hang zur Überdiagnostik und deren Folgen
Auch gesunde Menschen werden immer häufiger als krank bezeichnet – bloß weil ein paar Werte von der Norm abweichen. Eine Gruppe internationaler Ärzte und Wissenschaftler hat deswegen einen Appell in der Fachzeitschrift „BMJ Evidence-Based Medicine“ veröffentlicht: Sie wollen die Regeln, nach denen gegenwärtig Krankheiten definiert und Grenzwerte für Diagnosen festgelegt werden, verändern. Prof. Dr. Thomas Kühlein, Direktor des Allgemeinmedizinischen Instituts der FAU, ist einer dieser Wissenschaftler. Im Interview erklärt er, was mit Überdiagnostik gemeint ist und wie er und seine Kollegen dagegen vorgehen wollen.
Wer sich gesund fühlt, ist das noch lange nicht – zumindest per Definition gelten auch Leute als krank, obwohl diese nicht unter Symptomen leiden. Wieso ist das so?
Im Deutschen haben wir nur das Wort Krankheit. Im Englischen lässt sich dagegen in „illness“ und „disease“ unterscheiden. Dabei meint „illness“ das Leiden der Patienten, während „disease“ das Krankheitskonzept, also die Erklärung der Ärzte meint. Nun gibt es zunehmend Krankheit ohne Leiden. Und während Leiden nur fühlbar ist, ist Krankheit eben definierbar. So lassen sich viele Veränderungen bereits messen, bevor sie als Leiden fühlbar werden. Diese frühen Veränderungen führen aber keineswegs immer zu einem Leiden. Hinzu kommt die unreflektierte Vermischung von Krankheit und Risikofaktor. Einer der stärksten Risikofaktoren für eine Vielzahl von Krankheiten ist das Alter. Auch ganz normale Alterungsprozesse werden häufig mit Diagnosen belegt.
Wer formuliert die Regeln, nach denen gegenwärtig Krankheiten definiert und Diagnosen erstellt werden?
Die Medizin hat sich im Laufe der Zeit immer mehr zersplittert. So gibt es beispielsweise nur noch wenige wirklich breit aufgestellte Internisten. Stattdessen gibt es Spezialisten für immer kleinere Gebiete. Krankheitsdefinitionen werden meist von diesen Spezialisten festgelegt. Spezialisten neigen dazu, nicht den ganzen Menschen im Blick zu haben. Auch wird deren Forschung häufig von der Industrie finanziert. Beides kann zu Verzerrungen des Urteils führen und tut es wohl auch. Es ist gut belegt, dass industriefinanzierte Studien zu anderen Ergebnissen kommen und dass finanzielle Interessenkonflikte einen Einfluss auf die Bewertung von Forschungsergebnissen haben. Das ist keinesfalls mit Korruption zu verwechseln, aber eben doch eine Korrumpierung, also Beeinflussung des Urteils. Das Problem ist, dass es diesseits statistischer Signifikanz kein eindeutiges Maß dafür gibt, wann Relevanz beginnt.
Was sind Beispiele für eine Überdiagnostik?
Das bekannteste Beispiel ist die im letzten Jahr durch die US-amerikanische Fachgesellschaft für Kardiologie beschlossene Absenkung der Grenzwerte für Bluthochdruck. Danach würde jeder zweite erwachsene Mensch in den USA die Diagnose Bluthochdruck bekommen. Ein anderes Beispiel ist die Osteoporose. Etwa die Hälfte der 80-Jährigen erfüllt die dafür nötigen Kriterien. Nach der US-amerikanischen Leitlinie sollten 93 Prozent der über 75-jährigen Frauen Medikamente gegen Osteoporose erhalten, obwohl deren Wirksamkeit gegen die in diesem Alter vor allem gefürchteten Schenkelhalsbrüche sehr begrenzt ist. Die deutschen Leitlinienautoren halten sich dagegen für moderat, da nach ihrer Empfehlung geschätzt nur etwa 75 Prozent diese Medikamente erhalten sollten. Die Liste der Beispiele ließe sich lange fortsetzen.
Menschen halten sich also oft für krank, obwohl sie das nicht sind. Welche Folgen hat das?
Wenn man jemandem eine Diagnose wie Bluthochdruck mitteilt und ihm Medikamente verordnet, hält sich derjenige natürlich für krank. Er kontrolliert dann ängstlich seine Blutdruckwerte, geht zum Arzt und hat unter Umständen Nebenwirkungen – kurz: das gesamte Wohlbefinden wird gestört. Einer der wichtigsten ärztlichen Grundsätze ist das „primum nil nocere“, zu Deutsch: Man sollte zuerst einmal nicht schaden. Es ist nicht so, dass wer Blutdruckmittel nimmt, auf keinen Fall einen Herzinfarkt bekommt. Die meisten Patienten mit Bluthochdruck hätten auch ohne Medikamente nie einen Herzinfarkt bekommen. Andere bekommen auch mit diesen Medikamenten trotzdem einen Herzinfarkt. Man muss also viele Menschen umsonst behandeln, damit einer keinen Herzinfarkt erleidet. Viele haben also durch eine für sie unnötige Diagnose einen kleinen Schaden, damit einer einen großen Nutzen hat. Und man weiß natürlich nie, ob man selbst der eine ist oder nicht. Aber wie vielen Menschen darf man unnötig schaden, damit einer etwas davon hat? Und wer bestimmt das? Studien haben gezeigt, dass Spezialisten bereit sind, sehr viel mehr Patienten umsonst Medikamente nehmen zu lassen, um einem zu nutzen, als Hausärzte. Patienten erwarten einen noch höheren Nutzen von Medikamenten als ihre Ärzte. Leider kennen viele Ärzte und Patienten die tatsächlichen Effekte ihrer Medikamente nicht. Wenn man sie befragt, überschätzen sie den Nutzen und unterschätzen den möglichen Schaden.
Was schlagen Sie und Ihre Kollegen vor, um die Situation zu verbessern?
Es gibt längst eine weltweite Bewegung unter Ärzten, die das Problem der Überversorgung erkannt haben. Selbst wenn eine Therapie noch zu rechtfertigen wäre, wenn der Patient nur dieses eine Gesundheitsproblem oder Risiko hätte, wird spätestens mit zunehmendem Alter die Summe der vielen Tabletten zu einem eigenen Problem. Deshalb hat sich eine internationale Gruppe, zu denen auch die designierte Präsidentin der Weltorganisation der Hausärzte (WONCA) Anna Stavdal und andere namhafte Ärzte und Wissenschaftler gehören, zusammengetan, und dazu aufgerufen, dass Krankheiten und ihre Grenzwerte in Zukunft stärker von Generalisten, wie es die Hausärzte sind, sowie von Patienten- und Bürgervertretern definiert werden sollten. Ich selbst habe als Vorsitzender eines internationalen Klassifikationskommittees der WONCA daran teilgenommen. Auch leitet das Allgemeinmedizinische Institut am Universitätsklinikum Erlangen, dem ich als Direktor vorstehe, ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziertes Forschungsnetzwerk mit Namen PRO PRICARE. PRO PRICARE steht für „Preventing Overdiagnosis in Primary Care“, auf Deutsch „Verhinderung von Überversorgung in der ambulanten Versorgung“.
- Mehr Informationen zum Forschungsnetzwerk PRO PRICARE
- DOI: http://dx.doi.org/10.1136/bmjebm-2018-111148
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Thomas Kühlein
Tel.: 09131/85-31140
thomas.kuehlein@uk-erlangen.de