Big Data der Vergangenheit entfesseln: Europa baut eine Zeitmaschine

Time Machine Project
Für das Time Machine-Projekt entwickeln Forscher neuartige KI-Technologien, um große Informationsmengen aus komplexen historischen Datensätzen verwerten zu können. (Bild: Notch Communications)

Time Machine-Projekt nimmt wichtige Hürde zu EU-Großforschungsvorhaben

Die Europäische Kommission hat das Time Machine-Projekt als einen der sechs Vorschläge für eine große, strategische Forschungsinitiative für das nächste Jahrzehnt ausgewählt. Insgesamt werden Mittel in Höhe von einer Million Euro bereitgestellt, um eine detaillierte Roadmap des Projekts vorzubereiten, die auf die Extraktion und Nutzung von Big Data der Vergangenheit abzielt. Das Time Machine-Projekt sieht vor, neuartige Technologien im Bereich Digitalisierung und künstlicher Intelligenz (KI) zu konzipieren und zu implementieren, um das gewaltige kulturelle Erbe Europas aufzuarbeiten. Dadurch soll ein fairer und freier Zugang zu Informationen geschaffen werden, der zukünftige wissenschaftliche und technologische Entwicklungen in Europa unterstützt.

Für das Time Machine-Projekt, an dem unter anderen die FAU beteiligt ist, werden neuartige KI-Technologien entwickelt, um große Informationsmengen aus komplexen historischen Datensätzen verwerten zu können. Dies ermöglicht die Umwandlung fragmentierter Daten – von mittelalterlichen Manuskripten über historische Objekte bis hin zu Smartphone- und Satellitenbildern – in verwertbares Wissen für die Wirtschaft. Im Grunde wird eine weitreichende Computer- und Digitalisierungsinfrastruktur die gesamte soziale, kulturelle und geografische Entwicklung Europas erfassen. Angesichts der beispiellosen Größe und Komplexität der Daten hat das Time Machine-Projekt das Potenzial, Europa einen klaren Wettbewerbsvorteil im globalen KI-Rennen zu verschaffen.

„Die Time Machine wird sich wahrscheinlich zu einem der fortschrittlichsten künstlichen Intelligenzsysteme entwickeln, das je gebaut wurde, und das mit Hilfe von Daten aus einem breiten geographischen und zeitlichen Spektrum trainiert wurde“, erklärt Frederic Kaplan, Professor für Digital Humanities an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) und Koordinator des Time Machine-Projekts.

An der FAU sind mehr als 30 Wissenschaftler an dem Time Machine-Projekt beteiligt, darunter Historiker, Archäologen und Informatiker; federführend ist Prof. Dr. Andreas Maier, Lehrstuhl für Informatik 5 (Mustererkennung) und zugleich Leitungsmitglied des Konsortiums. „Unser Ziel ist es, möglichst alle Dokumente, Bilder, Skulpturen, archäologische Funde und Sammlungsstücke zu digitalisieren“, führt Prof. Maier aus. Doch um solche heterogene und unstrukturierte Daten verarbeiten zu können, sind völlig neue Werkzeuge in der Informatik nötig, etwa die Verknüpfung von klassischer künstlicher Intelligenz und Deep Learning. „Entscheidend ist aber auch die Bewertung durch Wissenschaftler, etwa um Scheinkorrelationen zu erkennen.“ Die FAU-Wissenschaftler beschäftigen sich innerhalb des Time Machine-Projekts insbesondere mit der Fusion von symbolischer KI und Methoden des Deep Learnings, aber auch deren Anwendung zum Aufbau einer Nürnberg-Time-Machine.

Kulturerbe als wertvolles wirtschaftliches Gut

Das Kulturerbe ist eines unserer wertvollsten Güter, und das zehnjährige Forschungs- und Innovationsprogramm könnte zeigen, dass Investitionen auf diesem Gebiet nicht nur ein Kostenfaktor, sondern vielmehr ein wichtiger wirtschaftlicher Motor für ganz verschiedene Branchen sein können. Die digitale Aufarbeitung des europäischen Kulturerbes und das daraus generierte Wissen kann zu neuen Dienstleistungen und Produkten in Bereichen wie Bildung, Kreativwirtschaft, Politikgestaltung, Tourismus, intelligenten Städten und Umweltmodellierung führen. Zum Beispiel könnten Dienste, über die sich Regionen über Raum und Zeit vergleichen lassen, zu einem wichtigen Instrument für die Politik oder zur Stadtplanung werden. Im Tourismus könnten ganz neue Angebote durch die Verknüpfung zwischen digitaler und physischer Welt entstehen.

Mit dem Time Machine-Projekt könnte zugleich ein ganz neuer Abschnitt für die Sozial- und Geisteswissenschaften beginnen, da es über einen einheitlichen Datenzugang und künstliche Intelligenz einen offenen Zugang zu Europas Vergangenheit schafft. Wissenschaftler werden in der Lage sein, für ihre Projekte in einem nie gekannten Umfang und nie erreichter Tiefe zu recherchieren. Auf diese Weise können Sozial- und Geisteswissenschaften ganz neue strategische Antworten auf europaweite Herausforderungen wie nachhaltiges Wachstum, soziale Fürsorge, Migration und Integration von Migranten sowie die Wahrung der europäischen Demokratie geben. Bildung ist ein entscheidender Faktor für das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen in Europa und der Welt. Mit Hilfe des Time Machine-Projekts kann höchst innovatives digitales Bildungsmaterial entstehen – die daraus resultierenden Online-Kurse, Simulationen und Anwendungen fördern eine aktive Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe und machen lebenslanges Lernen leichter zugänglich und inklusiver.

Mehr als 200 Organisationen aus 33 Ländern

Das Time Machine-Projekt ist eine einzigartige Allianz führender europäischer Hochschul- und Forschungseinrichtungen, kulturellen Einrichtungen sowie Unternehmen. Diese sind sich des großen Potenzials der Digitalisierung und der vielversprechenden neuen Wege für Wissenschaft, Technologie und Innovation bewusst, die sich aus dem Datenschatz der Vergangenheit ergeben. Neben den 33 Kerninstitutionen, die von der Europäischen Kommission finanziert werden, beteiligen sich mehr als 200 Organisationen aus 33 Ländern an dem Vorhaben, darunter sieben Nationalbibliotheken (Österreich, Belgien, Frankreich, Israel, Niederlande, Spanien, Schweiz), 19 Staatsarchive (Belgien, Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Ungarn, Litauen, Malta, Norwegen, Polen, Rumänien, Slowenien, Spanien, Slowakei, Schweden und die Schweiz), berühmte Museen (Louvre, Rijkmuseum), 95 Hochschul- und Forschungseinrichtungen, 30 europäische Unternehmen und 18 andere staatliche Stellen.

Gleichzeitig handelt es sich bei dem Projekt um ein ständig wachsendes Städtenetzwerk. Es basiert auf einer Art Franchise-Modell, bei dem Wissenschaftler, Kultureinrichtungen, Behörden und große Gruppen von Freiwilligen zu Projekten mit Fokus auf Städte zusammengefasst werden. Die Einbeziehung von Freiwilligen – häufig sind es Bürger vor Ort – in diese lokalen Time Machine-Initiativen ist einer der Schlüssel, mit dem die Nachhaltigkeit des Vorhabens sichergestellt werden soll. Solche lokale Zeitmaschinen entstehen derzeit unter anderem in Venedig, Amsterdam, Paris, Jerusalem, Budapest, Regensburg, Nürnberg, Dresden, Limburg, Antwerpen, Gent, Brügge, Neapel und Utrecht. Die Forscher gehen davon aus, dass die Community in den kommenden zwölf Monaten wächst und sich dabei einer standardisierten Plattform und gemeinsamen Werkzeugen bedient.

Das Time Machine-Projekt

Anfang 2016 sammelte die Europäische Kommission über einen Aufruf in der Forschergemeinde, Ideen zu wissenschaftlichen und technologischen Herausforderungen, mit denen sich künftige FET Flagships auseinandersetzen könnten. Ende 2016 folgte ein Runder Tisch mit hochrangigen Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Forschung. Sie legten drei vielversprechende Bereiche fest: „IKT und die vernetzte Gesellschaft“, „Gesundheit und Lebenswissenschaften“ sowie „Energie, Umwelt und Klimawandel“. Im Oktober 2017 wurden Einrichtungen im Rahmen des Horizon 2020 FET-Arbeitsprogramms 2018 aufgefordert, Voranträge für künftige Forschungsinitiativen einzureichen. Aus den insgesamt 33 Vorschlägen wurden sechs nach einer zweistufigen Bewertung durch unabhängige Experten ausgewählt.

Am Time Machine-Projekt sind folgende 33 Institutionen beteiligt und werden für die Entwicklung der Roadmap mit insgesamt einer Million Euro gefördert: Ecole Polytechnique Federale de Lausanne, TU Wien, International Centre for Archival Research, Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften, Naver France, Universität Utrecht, FAU Erlangen-Nürnberg, Ecole Nationale des Chartes, Universität Bologna, Institut National de l’Information Geographique et Forestiere, Universität Amsterdam, Universität Warschau, Universität Luxemburg, Bar-Ilan Universität, Universität Venedig, Universität Antwerpen, Qidenus Group, TU Delft, Centre National de le Recherche Scientifique, Stichting Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid, FIZ Karlsruhe, Fraunhofer Gesellschaft, Universität Gent, TU Dresden, TU Dortmund, Österreichische Nationalbibliothek, Iconem, Institute of Bioorganic Chemistry, Polish Academy of Sciences, Picturae, Centre des Visio per Computador, Europeana Foundation, Indra, Ubisoft

Link zur Webseite des Time Machine Projekts

Weitere Informationen:

EPFL
Kevin Baumer
kevin.baumer@epfl.ch

FAU
Prof. Dr. Andreas Maier
Tel.: 09131/85-27883
andreas.maier@fau.de