Wenn ein Mensch stirbt
Wie die Palliativmedizin sterbenden Menschen hilft
Wer das Leben erforscht, muss sich auch mit dem Tod beschäftigen. Palliativmediziner der FAU suchen nach Möglichkeiten, die letzten Monate, Wochen oder Tage von Schwerkranken ohne Angst und Schmerzen zu gestalten. Und geraten dabei an juristische Grenzen.
von Matthias Münch
Mediziner zu sein, ist eine Berufung. Ein Arzt will Krankheiten diagnostizieren, er will Leiden lindern, und er will vor allem eines: heilen. Manchmal aber ist eine Heilung nicht möglich – wenn beispielsweise eine Tumorerkrankung zu weit fortgeschritten oder das motorische Nervensystem so stark zerstört ist, dass der Betroffene kaum noch selbstständig atmen kann. Nicht heilen zu können, bedeutet aber nicht, dem Patienten nicht helfen zu können, im Gegenteil.
Prof. Dr. Christoph Ostgathe kümmert sich um Menschen, die unheilbar krank sind. Er ist Facharzt für Anästhesie, Palliativmedizin und Spezielle Schmerztherapie und leitet die Palliativmedizinische Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen. „Unsere Aufgabe ist es, die Zeit, die den Patienten bleibt, so angenehm wie möglich zu gestalten“, sagt er. „Wer bei uns aufgenommen wird, soll möglichst nicht leiden müssen, keine Angst haben und keine Unruhe verspüren.“ Viel Mensch, wenig Technik – das ist der Ansatz der Erlanger Palliativmedizin. Und deshalb fühlt man sich auf der Station im zweiten Obergeschoss der Frauenklinik nicht wie in einem typischen Krankenhaus: Flure und Zimmer sind in warmen Erdtönen gestrichen, die Ein- und Zweibettzimmer sind großzügig geschnitten, es gibt Rückzugsorte, eine Küche und eine große Terrasse, die mit Betten befahren werden kann. Viel Mensch heißt auch, dass sich speziell geschulte Pflegekräfte, Ärzte, Psychologen, Seelsorger, Kunst- und Musiktherapeuten, Sozialarbeiter und Physiotherapeuten nicht nur intensiv um die zwölf Patientinnen und Patienten kümmern, sondern auch um deren Angehörige.
Palliative Sedierung – ein vorzeitiger Tod?
Natürlich gibt es auf einer Palliativstation auch medizinische Behandlungen, und eine der wichtigsten dient der Vermeidung oder zumindest Linderung von Schmerzen. „Wir verfügen heute über hervorragende Medikamente, die gut vertragen werden und sehr gut wirken“, erzählt Christoph Ostgathe. „Bei fünf bis zehn Prozent der Patienten reicht das jedoch nicht mehr aus, die Schmerzen sind einfach zu stark.“ In solch schwerwiegenden Fällen hilft es häufig nur noch, das Bewusstsein der Betroffenen mithilfe von Medikamenten zu reduzieren. Eine solche palliative Sedierung wird zumeist für einen Zeitraum von 24 Stunden vorgenommen, anschließend wird der Patient wieder aufgeweckt. Manche fühlen sich danach besser und können eine Zeitlang auf weitere Sedierungen verzichten. Bei einigen wenigen sind die Beschwerden jedoch so stark und der Zustand so kritisch, dass eine sogenannte tiefe kontinuierliche Sedierung vorgenommen wird: Der Patient wird in Absprache mit ihm und den Angehörigen in ein künstliches Koma versetzt und wacht bis zu seinem Tod nicht mehr auf. Ein Schritt, der den Betroffenen vor unerträglichen Schmerzen bewahrt, der jedoch auch ethische und juristische Fragen aufwirft.
Genau um diese Fragen geht es im Projekt „SedPall“, das vor einem Jahr gestartet ist. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) untersucht Christoph Ostgathe die gängige Sedierungspraxis in 17 palliativmedizinischen Einrichtungen überwiegend im süddeutschen Raum. „Obwohl das Thema, auch die kontinuierliche Sedierung bis zum Tod, seit über 20 Jahren diskutiert wird, gibt es bis heute keine verbindlichen Standards und Handlungsempfehlungen“, sagt er. „Es fehlt auch an belastbaren Daten zu klinischen Aspekten der Sedierungspraxis in Deutschland.“ Um das zu ändern, wird das Team der Erlanger Palliativmediziner in den kommenden zwei Jahren die Daten von 6.000 Patienten erheben und zusammen mit der Palliativmedizin der LMU München Interviews mit Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen führen. Ostgathe: „Wir wurden vom BMBF explizit aufgefordert, Patienten, Angehörige und die Öffentlichkeit in den Diskurs einzubinden. Denn die Frage, wann ein Leiden unerträglich ist, ist keine rein medizinische, sondern auch eine ethische.“ Aus diesem Grund arbeiten die Erlanger Mediziner eng mit Medizinethikern, unter anderem von der Universität Halle-Wittenberg, zusammen.
Die Palliativmediziner brauchen für ihre Arbeit aber auch einen gesicherten juristischen Rahmen. Prof. Dr. Christian Jäger, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medizinstrafrecht an der FAU, untersucht als Kooperationspartner im SedPall-Projekt, ob die tiefe kontinuierliche Sedierung per definitionem möglicherweise einem Tötungsdelikt gleichkommt. „Das hört sich erst einmal absurd an, aber das deutsche Strafgesetzbuch kennt die Paragraphen 216 und 217, nach denen für das aktive Töten auf Verlangen beziehungsweise die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung bis zu fünf beziehungsweise bis zu drei Jahre Freiheitsentzug drohen“, erklärt Jäger. Das Problem: Die Ausschaltung des Bewusstseins im Zuge der palliativen Sedierung kann eine Verkürzung der Lebenszeit zur Folge haben – beispielsweise deshalb, weil der Patient im Koma nicht selbst essen und trinken kann. Jäger: „Man ist zu lange davon ausgegangen, dass die Sterbebegleitung keiner gesetzlichen Regelung bedarf.“ Dabei geht es keineswegs nur um die Frage der möglichen Lebenszeitverkürzung: Muss sich die Einschätzung des Gesundheitszustandes durch den Arzt mit den Empfindungen des Patienten decken? Ist ein unter qualvollen Schmerzen leidender Mensch aus juristischer Sicht überhaupt in der Lage, sein Einverständnis zur palliativen Sedierung zu erklären? Ist die gemeinsam mit dem Arzt getroffene Entscheidung endgültig? Und kommt zur Tötung auf Verlangen möglicherweise noch der Tatbestand der Freiheitsberaubung hinzu, weil der Patient während der Sedierung durch die Medikamente an selbstständigen Bewegungen gehindert wird? „Es wird höchste Zeit, dass die Palliativmedizin die juristische Grauzone verlässt“, sagt Christian Jäger.
Radar an der Krankenzimmerdecke
Inwieweit technische Innovationen der Universität die Betreuung schwerkranker Menschen unterstützen können, zeigt das Projekt „Guardian“, das im Rahmen des Forschungsprogramms „Technik zum Menschen bringen“ ebenfalls vom BMBF gefördert wird. Ingenieure des Lehrstuhls für Technische Elektronik (LTE) der FAU haben ein Radarsystem entwickelt, das die Vitalfunktionen von Patienten, also zum Beispiel die Atemfrequenz und den Herzschlag, automatisch überwachen kann. Das Gerät arbeitet mit einem sogenannten Sechstor-Dauerstrich-Radar und ist in der Lage, die Bewegungen des Patienten aus mehreren Metern Entfernung zu erfassen – selbst wenn dieser bekleidet ist oder unter der Bettdecke liegt. Die Techniker bedienen sich dabei im Grunde einer ähnlichen Methode, wie sie auch bei der Geschwindigkeitsmessung im Straßenverkehr zum Einsatz kommt: Eine Radarwelle wird auf die Oberfläche eines Objektes gerichtet und reflektiert. Bewegt sich das Objekt, ändert sich die Phase der reflektierten Welle. Daraus kann dann die Stärke und Frequenz der Bewegung errechnet werden, beispielsweise das Heben und Senken Brustkorbes. „Wir können unser Radargerät zum Beispiel an die Decke des Krankenzimmers hängen und von dort aus Bewegungen im Bereich weniger Mikrometer aufzeichnen“, sagt Informations- und Kommunikationstechniker Fabian Lurz, der das Projekt am LTE leitet. „Damit lassen sich sogar die Herztöne der Patienten detektieren und mögliche Anomalien automatisch erkennen.“ Die erste Phase des Guardian-Projektes haben die Ingenieure erfolgreich abgeschlossen: 30 gesunde Probanden wurden jeweils eine Stunde lang im Liegen überwacht. Das überzeugende Ergebnis: Verglichen mit den etablierten Standardmethoden, etwa der Elektrokardiografie, erreicht das Radarsystem eine Genauigkeit von 94 Prozent. „Unsere Methode ist revolutionär, die verwendete Technik jedoch nicht sehr komplex, was die Kosten für das Gesundheitssystem in Grenzen halten dürfte“, erklärt Fabian Lurz. „Wir sind deshalb sehr optimistisch, dass das Radarsystem in nicht allzu ferner Zukunft in den Praxisbetrieb gehen kann.“
Ursprünglich ist das System am LTE für die automatische Überwachung von Großmaschinen in der Industrie entwickelt worden, etwa um Vibrationen aufzuspüren, die auf einen technischen Defekt hindeuten. Bei der praktischen Erprobung zeichnete das Radar jedoch nicht nur die Bewegungen der Maschine auf, sondern auch periodische Kurven, für die es zunächst keine Erklärung gab – bis klar war, dass es sich um den Herzschlag der Forscher handelte. „Ein Glücksfall für die Palliativmedizin“, sagt Christoph Ostgathe. Denn mit dem Radarsystem könnten die Vitalfunktionen der Patienten künftig berührungslos und rund um die Uhr erfasst und archiviert werden. „Bisherige Überwachungsmethoden schränken die Bewegungsfreiheit der Patienten ein, und die Verkabelung vermittelt eine Präsenz technischer Apparate, die wir auf unserer Station eigentlich nicht haben möchten.“ Das Radargerät hingegen bleibt aus dem Blickfeld der Patienten weitgehend verschwunden, liefert jedoch zuverlässig objektive Daten über den Gesundheitszustand. Ostgathe: „30 bis 40 Prozent unserer Patienten können keine Auskunft über ihr Befinden geben. Das Radar verrät uns aber beispielsweise anhand der Herzrate, ob sie sich wohlfühlen oder unruhig sind.“ Ein weiterer großer Vorteil der Radarüberwachung gerade auf einer Palliativstation: Verschlechtert sich der Zustand eines Patienten, können die Angehörigen frühzeitig informiert werden, um ihn in seinen letzten Stunden zu begleiten. Und stirbt ein Patient, wird das vom Gerät sofort registriert – so können die Pflegekräfte schneller als bisher reagieren. Im November startet Guardian in die Phase der klinischen Erprobung.
Doch auch die permanente radargestützte Überwachung von Atemfrequenz und Herzrhythmus ist nicht ohne juristische Fallstricke. Denn das Radar erfasst die Vitalfunktion sämtlicher Personen, die sich im Raum aufhalten – und das sind nicht nur die Patienten. Was aber passiert, wenn das Gerät Alarm schlägt, weil es bei einem Angehörigen einen Herzklappenfehler registriert? „Mit der neuen Grundverordnung hat sich der Datenschutz noch einmal verschärft“, sagt Christian Jäger, dessen Expertise nicht nur im SedPall-, sondern auch im Guardian-Projekt gefragt ist. „Die Besucher müssen möglicherweise über die automatische Detektion aufgeklärt werden.“ Doch wie? Reicht ein Hinweis an der Zimmertür? Muss eine mündliche Aufklärung erfolgen und der Besucher gegebenenfalls eine Belehrung unterschreiben? Wie oft müsste er das tun? Oder genügt eine möglichst rasche Löschung der Besucherdaten? Hinzu kommt die Frage, wie der Arzt reagieren sollte, falls bei einem Angehörigen tatsächlich eine Krankheit oder Fehlfunktion diagnostiziert wird: Darf er ihn dann aufklären, muss er es möglicherweise sogar? Jäger: „Im Guardian-Projekt werden wir letztlich zwischen dem Wohl der Patienten und dem Schutz der Besucher abwägen müssen.“
Der friedrich – das Forschungsmagazin der FAU
Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich. Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema Ende in all seinen Formen: Welche davon sind unausweichlich? Wie setzen sich Menschen damit auseinander? Und was bedeuten sie für den einzelnen? Und ist das, was Menschen als Ende definieren wirklich der Schlusspunkt? Manchmal verändern sich Dinge nur, entwickeln sich weiter, es entsteht etwas Neues. Mitunter ist das Ende aber auch gar kein Thema: Der Mensch strebt nach Unendlichkeit. Können wir diesen Begriff überhaupt verstehen? Ist Innovation unendlich? Und leben wir unendlich weiter – im Internet?
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.