Hartz IV: Die Reform wirkt. Wie können die Nebenwirkungen reduziert werden?

Scrabble-Buchstaben Hartz IV
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Vor 15 Jahren galt Deutschland als der kranke Mann Europas und bekam die Hartz-Reformen verschrieben. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. In der Öffentlichkeit wird Hartz IV dennoch von vielen gleichgesetzt mit Abstiegsangst und sozialer Kälte, und es besteht bisweilen der Eindruck, auch die Wissenschaft sei sich nicht einig, wie Hartz IV wirkt. Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Christian Merkl vom Lehrstuhl für Makroökonomik der FAU hat sich gemeinsam mit Brigitte Hochmuth, Dr. Britta Kohlbrecher und Dr. Hermann Gartner (alle FAU) nun in einer Studie mit den Wirkungen und Nebenwirkungen von Hartz IV auseinandergesetzt. Er beantwortet Fragen zum Thema.

Was macht es so schwer, nach 15 Jahren zu erkennen, ob eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme wirkt oder nicht?

Zunächst einmal ist es schwierig, die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt konkret Hartz IV zuzuordnen, da in dem Zeitraum weitere Reformen und Entwicklungen stattgefunden haben, die ebenfalls auf den Arbeitsmarkt eingewirkt haben. Hartz IV hat die Arbeitslosenunterstützung für Langzeitarbeitslose weniger großzügig gemacht. Als Forscher versuchen wir, die Wirkung dieser Maßnahme von anderen zu isolieren. Dabei müssen zwei Wirkungsebenen beachten werden. Erstens gibt es direkte Effekte: Arbeitslose sind durch Hartz IV bei der Arbeitssuche zu größeren Zugeständnissen gegenüber Arbeitgebern bereit und werden dadurch mit höherer Wahrscheinlichkeit eingestellt. Zweitens gibt es gesamtwirtschaftliche Effekte, da Firmen auf die größeren Zugeständnisse reagieren und insgesamt mehr neue Stellen ausschreiben. Diese Effekte in makroökonomischen Modellen zu quantifizieren ist schwierig. Es gibt in der bisherigen Literatur zwar prinzipielle Einigkeit, dass Hartz IV die Arbeitslosigkeit reduziert hat, aber nicht um wie viel.

Welchen Weg haben Sie und Ihr Team gewählt?

Wir messen in unserer Arbeit den direkten Effekt der Hartz IV-Reform empirisch. Wir nutzen dazu als erste in der Literatur die Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, um das geänderte Rekrutierungsverhaltens von Betrieben zu analysieren. Kombiniert mit einer Modellsimulation können wir den gesamtwirtschaftlichen Effekt bestimmen.

Welchen Vorteil hat dieses Vorgehen gegenüber anderen Ansätzen?

Wir unterscheiden uns von den bisherigen makroökonomischen Simulationen, die sich vor allem im Hinblick auf die tatsächliche Absenkung der Lohnersatzleistungen durch Hartz IV uneinig sind. Bildlich gesprochen: Stellen Sie sich den Pool der Arbeitslosen als eine gefüllte Badewanne vor. Es ist schwer zu bestimmen, wie stark durch Hartz IV der Abfluss der Badewanne aufgedreht wurde und folglich der Pegel gesunken ist. Deswegen messen wir direkt, wie viel zusätzliches Wasser durch Hartz IV aus der Badewanne geflossen ist. Letzteres machen wir auf Basis des geänderten Rekrutierungsverhaltens von Betrieben.

Es zeigt sich: Seit der Einführung der Hartz IV-Reform stellen Betriebe einen größeren Anteil ihrer Bewerber ein. Dieser direkte Effekt führt in unserem Modell zu einer Absenkung der Arbeitslosenquote um ca. einen Prozentpunkt. Der direkte Effekt erzählt aber nur die Hälfte der Geschichte. Mit Hilfe unseres Datensatzes und einer Modellsimulation errechnen wir, dass der zusätzliche gesamtwirtschaftliche Effekt – also die Schaffung zusätzlicher neuer Stellen – ähnlich groß ist. Durch die Hartz IV-Reform sank die Arbeitslosenquote also nach unseren Berechnungen insgesamt um gut zwei Prozentpunkte. Dies entspricht rund einer Million zusätzlicher Arbeitsplätze.

Wie sieht es denn mit den Nebenwirkungen von Hartz IV aus?

Eine Nebenwirkung, die in der öffentlichen Debatte häufig genannt wird, ist die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit. Die Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt hat jedoch bereits vor den Hartz-Reformen deutlich zugenommen. Daher ist diese Entwicklung nur zu einem geringen Teil auf die Reformen zurückzuführen und zum größten Teil auf andere Faktoren, wie z.B. die technologische Entwicklung oder der sinkende Deckungsgrad von Tarifverträgen. Ein Zurückdrehen der Hartz IV-Reform würde diese Phänomene nicht verschwinden lassen und folglich zu ernüchternden Resultaten führen.

Eine Tatsache ist jedoch, dass sich gerade für gutverdienende Arbeitnehmer die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit verschlechtert hat. Dies erklärt den großen Widerstand gegen die Reform. Es gibt einen Konflikt zwischen höherer Beschäftigung und ökonomischer Sicherheit.

Sehen Sie eine Lösung?

In der derzeitigen Debatte werden Vorschläge gemacht, wichtige Reformelemente zurückzudrehen, wie eine Erhöhung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für langjährig Beschäftigte. Dadurch wären diese bei längeren Phasen der Arbeitslosigkeit besser abgesichert. Zahlreiche Studien, auch unsere, implizieren allerdings, dass dadurch die Arbeitslosigkeit steigt.

Wenn eine bessere Absicherung für langjährig Beschäftigte politisch erwünscht ist, sollten Reformen so ausgestaltet werden, dass negative Auswirkungen auf die Beschäftigung möglichst gering sind. Den Zielkonflikt zwischen besserer Absicherung und höherer Arbeitslosigkeit kann man nicht komplett auflösen, aber versuchen zu verringern. Eine Möglichkeit wäre, dass Beschäftigte einen Teil der Arbeitslosenbeiträge in ein Beschäftigungskonto einzahlen. Langjährig Beschäftigte hätten dann ein volles Konto. Sobald das Arbeitslosengeld I ausläuft, können diese auf ihr Guthaben zurückgreifen statt auf Hartz IV-Niveau zu fallen. Im Unterschied zu einer bloßen Verlängerung des Arbeitslosengeld I bekämen Arbeitnehmer ihr verbleibendes Guthaben bei Renteneintritt erstattet. Da bei Arbeitslosigkeit ein Teil des Guthabens aufgebraucht wird, bleibt der Anreiz, wieder eine Beschäftigung aufzunehmen, erhalten. Der Zielkonflikt zwischen Beschäftigung und Sicherheit ist folglich kleiner als bei der Verlängerung des Arbeitslosengeld I. Eine weitere Maßnahme, die diesen Zielkonflikt verringern kann, ist ein stärkerer Einsatz von Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit reduzieren. Hierzu zählen zum Beispiel Qualifizierungsmaßnahmen oder Lohnkostenzuschüsse.

Die Studie von Brigitte Hochmuth, Britta Kohlbrecher, Christian Merkl und Hermann Gartner

Kontakt:

Prof. Dr. Christian Merkl
christian.merkl@fau.de