„Der Gedanke der individuellen Förderung ist in der Schule angekommen“
Jeder Schüler hat unterschiedliche Begabungen, Interessen und Möglichkeiten. Die schulische Förderung sollte deshalb individuell auf den jeweiligen Schüler zugeschnitten sein, um ihm ein bestmögliches Lernumfeld zu bieten. Dr. Klaudia Kramer vom Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie und dem Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (ZfL) der Friedrich-Alexander-Universität erklärt im Gespräch, was das für Schulen sowie Lehrerinnen und Lehrer bedeutet.
Schülerinnen und Schüler sollen individuell entsprechend ihrer Begabungen und Möglichkeiten optimal gefördert werden. Was bedeutet das konkret?
Individuell fördern bedeutet, das Kind in seinen Lernvoraussetzungen – wie Vorwissen, Lernstrategien und Motivationen – wahrzunehmen und es entsprechend zu fördern. Dafür braucht die Lehrkraft zunächst einmal fundierte fachliche sowie grundlegende diagnostische Kompetenzen. Weiterhin ist professionelles, pädagogisches und psychologisches Wissen über Lernprozesse und -kompetenzen nötig. Die großen Schulleistungsstudien zeigen eindrücklich auf, dass insbesondere ein Unterricht erfolgversprechend scheint, in dem verständnisorientiertes, fachliches, selbstreguliertes und reflexiv gesteuertes Lernen unterstützt und gefördert wird.
Wenn also Wissen über Lernkompetenzen mit fachlichem Wissen verknüpft ist, kann es für die gezielte Förderung fachspezifischer Lernprozesse genutzt werden. An der FAU versuchen wir in studienbereichsübergreifenden Lehrprojekten, diese sinnvolle Verknüpfung anzubahnen und auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Im FALKE-Seminar erwerben Studierende beispielsweise Fachwissen sowie gedächtnis- und lernpsychologisches Wissen. Auf dieser Basis reflektieren sie ihren eigenen Lernprozess und ziehen daraus Schlussfolgerungen für die schulische Praxis. Damit können sich die Lehramtsstudierenden grundlegende Kompetenzen für Lernprozessbegleitung und individuelle Förderung aneignen.
Für den Gymnasial- und Realschulbereich ist die individuelle Förderung von Lernenden sicherlich eine Herausforderung, da hier oft noch von eher homogenen Klassengruppen ausgegangen wird. Viele Grundschulen hingegen stellen sich bereits vielfach auf die Erfordernisse einer heterogenen Klassengemeinschaft ein. Das FAU-Institut für Grundschulforschung in Nürnberg vereint hierzu einschlägiges Expertenwissen.
Der Vorstand des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung unter der Leitung von Vizepräsidentin Prof. Dr. Antje Kley hat sich auf drei zentrale Profilschwerpunkte der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der FAU geeinigt: erstens Umgang mit Diversität, zweitens digitale Bildung und drittens Kompetenzen und Rolle der Lehrkraft. Angehende Lehrerinnen und Lehrer für die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern auszubilden, bedarf sicherlich aller drei Profilschwerpunkte.
Individuelle Förderung verlangt eine optimale Lernumgebung. Wie sieht diese im Idealfall aus?
Schulentwicklungsprojekte in Deutschland verdeutlichen, dass schulische Rahmenbedingungen flexibel an die Erfordernisse eines adaptiven Unterrichts, der auf die individuellen Förderbedürfnisse der Lernenden eingeht, angepasst werden können. Innovative Schulen versuchen, mit kreativen Raum-Zeit-Konzepten eine anregende Lernumgebung zu schaffen, um der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler besser begegnen zu können. Aber auch eine moderne technische Ausstattung der Schulen ist ein zentraler Faktor. Die lange versprochene bessere digitale Ausstattung der Schulen wird nun hoffentlich bald umgesetzt, denn insbesondere die digitalen Medien bieten für individuelle Förderung eine große Chance. Sie stellen gleichzeitig aber auch eine große Herausforderung dar. Da ist man sich inzwischen einig: Die Medienausstattung an sich reicht nicht. Digitale Medien sind nicht per se lernförderlich. Eine damit einhergehende gezielte Auswahl von Programmen, die auf ihre Lernwirksamkeit hin überprüft wurden, genauso wie die Förderung von Medienkompetenzen auf der Basis eines fundierten Konzeptes sind unabdingbar. Dabei muss der technische Umgang mit digitalen Medien ebenso geübt werden wie die selbstregulierte Mediennutzung. Im Projekt „Medienchamp“ lernen Lehramtsstudierende beispielsweise Förderansätze für eine selbstregulierte und kritische Mediennutzung kennen. Sie arbeiten anschließend mit Schülerinnen und Schülern an Gymnasien zu den Themen Mediennutzung, kritischer Umgang mit Medien, Medien und Lernen sowie Cybermobbing und reflektieren die Themenfelder zusammen. Der Profilschwerpunkt „Digitale Bildung“ mit den dazugehörenden Lehrstühlen, unter anderem in der Informatik und Medienpädagogik, vereint hier umfassendes wissenschaftliches Fachwissen an der FAU.
Wie ist der Ist-Zustand in den Schulen? Woran muss vor allem gearbeitet werden?
Werden Lehrkräfte gefragt, was in einer guten Schule unbedingt gegeben sein muss, antworten drei Viertel von ihnen, dass eine gezielte Förderung von Kindern nach ihren Begabungen, und zwar von benachteiligten wie von begabten Kindern, zentral sei. Der Gedanke nach der Bedeutung der individuellen Förderung ist in der Schule also angekommen. Die Frage, ob das auf die eigene Schule zutreffe, bestätigt allerdings nur ein Viertel. Ein wichtiges Thema für die Schulentwicklung also. Bei der Tagung „individuell fördern“ nehmen wir diese Fragen in den Blick und stellen Ansatzpunkte vor. Im Abschlussforum diskutieren Expertinnen und Experten aus Schule und Wissenschaft die Frage: „Schule neu denken, Spielräume nutzen, Lernhaltungen entwickeln – wie kann individuelle Förderung gelingen?“
So zeigen Studien der empirischen Bildungsforschung beispielsweise auf, dass in der Lehrkräfteaus-, fort- und -weiterbildung die Diagnosekompetenz stärker berücksichtigt werden sollte. Dazu gehört die präzise Beurteilung von Leistungsergebnissen und noch viel mehr die professionelle Wahrnehmung und Einschätzung von individuellen Lernprozessen. Dies ist die Basis für individuelle Förderung.
Zur gezielten Unterstützung der Lernprozesse der einzelnen Kinder gehört auch kooperatives Lernen. Die Chance echter kooperativer Lernarrangements, bei denen jedes einzelne Gruppenmitglied gefordert ist, liegt vor allem im voneinander und miteinander Lernen und der gleichzeitigen Förderung von Lernkompetenzen. So hat sich beispielsweise reziprokes Lehren, das das Prinzip „Lernen durch Lehren“ verwirklicht, als sehr lernerfolgsförderlich herausgestellt. Der Sozialpsychologe Elliot Aronson hat vor vielen Jahren das Gruppenpuzzle entwickelt, mit dem Ziel, die Außenseiter der Klasse besser zu integrieren. Innerhalb einer Gruppe wird dabei jedes Mitglied zum Experten für ein bestimmtes Thema und teilt sein Wissen mit den anderen Gruppenmitgliedern. Diese Form des kooperativen Lernens wird in Schulen inzwischen häufig angewandt und auch hier wird das Prinzip „Lernen durch Lehren“ verwirklicht. Oder das von Tutoren begleitete Lernen kann genutzt werden, um gezielt individuell zu fördern. Dabei können die Spielräume des Unterrichts gut ausgeschöpft werden. Aber auch hier gilt wieder: Fundierte Fach- und fachdidaktische Kompetenzen, verknüpft mit pädagogischem und psychologischem Wissen über Lehren, Lernen und Schule helfen der Lehrkraft bei der professionellen Praxisbewältigung.
In welchen Fähigkeiten spiegelt sich bei Lehrerinnen und Lehrern diese Diversity-Kompetenz wider?
Kompetenz im Sinne der empirischen Bildungsforschung gründet sich auf grundlegende kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten. Als kompetent gilt eine Person allerdings erst dann, wenn sie dieses grundlegende Wissen nutzen kann, um herausfordernde Situationen, zum Beispiel in der schulischen Praxis, besser zu meistern. Darüber hinaus gehört zum ursprünglichen Kompetenzbegriff auch die Motivation und Bereitschaft, dieses Wissen für die professionelle Praxisbewältigung zu nutzen. Diversity-Kompetenz spiegelt außerdem grundlegende Überzeugungen und (Wert-)Haltungen wider, das bedeutet etwa eine Lehrkraft nimmt Heterogenität als Chance wahr, um voneinander und miteinander zu lernen. Die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler wird als Ressource für individuelles und kooperatives Lernen genutzt. Hierzu hat beispielsweise Prof. Dr. Christian Fischer von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, einer der Hauptreferenten der Tagung „individuell fördern“, intensiv geforscht.
Eine zentrale Basis ist der wertschätzende und respektvolle Umgang miteinander, sicherlich auf der Grundlage der Werte und Normen unserer Gesellschaft. Vielfalt zu schätzen und dabei die eigene Identität zu wahren, beruht auf dem Grundprinzip der Gleichwertigkeit. Die jahrzehntelange sozialpsychologische Forschung zur Vorurteilsbildung hat aufgezeigt, dass wir bereits bei Gruppenzuweisungen aufpassen müssen. Denn Menschen anhand von Merkmalen wie Geschlecht, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung zu kategorisieren, kann bereits der erste Schritt zur Vorurteilsbildung sein, wenn damit implizit die Gleichwertigkeit in Frage gestellt wird. Gemeinsame Ziele setzen, Empathie, Perspektivenübernahme sowie Ambiguitätstoleranz (bzw. das Aushalten von Unterschiedlichkeit und Unsicherheit) fördern, können hier gute Ansatzpunkte für die Ausbildung von Lehrkräften sein, genauso wie für die Förderung der Diversity-Kompetenz bei Schülerinnen und Schülern. Mit dem Profilschwerpunkt „Umgang mit Diversität“ bündelt die FAU-Lehrerinnen- und Lehrerbildung wissenschaftliche Fachkenntnis aus den einzelnen einschlägigen Forschungsbereichen.
Das Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (ZfL) der FAU organisiert am Freitag, 23. Februar, von 9 bis 17.30 Uhr, in der Regensburger Straße 160, in Nürnberg eine Tagung zu dem Thema „Individuell fördern“. Die Tagung ist Teil der im zweijährigen Rhythmus stattfindenden Reihe „Bildungschancen durch Diversity-Kompetenz“. Anmeldeschluss ist der 9. Februar.
Weitere Informationen:
Dr. Klaudia Kramer
Tel.: 09131/85-20862
klaudia.kramer@fau.de
www.zfl.fau.de