Kosmische Kleinigkeiten
Jahrhundertelang waren Wissenschaftler bei der Suche nach universalen Weltbildern auf das angewiesen, was man sehen konnte. Heute beschäftigen sich Astroteilchenphysiker wie Professor Uli Katz, Leiter des physikalischen Instituts der FAU, vor allem mit dem, was man nicht sehen kann.
Interview: Matthias Münch
In den Tiefen des Mittelmeeres und im kilometerdicken Eis der Antarktis haben Sie und Ihre Forscherkollegen gigantische Detektorsysteme installiert, um Neutrinos aufzuspüren. Wie funktioniert das?
Unsere Neutrino-Teleskope sind in Tiefen verankert, in die kein Tageslicht dringt und in denen Wasser beziehungsweise Eis optisch extrem transparent sind. Das sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass wir Neutrinos überhaupt nachweisen können, und zwar anhand der bläulichen Strahlung, die bei einer der seltenen Reaktionen von Neutrinos mit Wassermolekülen entsteht. Diese Cherenkov-Strahlung erfassen wir mit tausenden hochsensiblen Sensoren, die über kubikkilometergroße Volumina verteilt sind. Da Neutrinos, im Unterschied zu anderen Formen kosmischer Strahlung, durch elektrische und magnetische Felder nicht abgelenkt und durch Materie kaum absorbiert werden, können wir anhand der Leuchtspuren Rückschlüsse darauf ziehen, aus welchem Bereich die hochenergetischen Teilchen stammen – und das bis an die Grenzen des Universums. Deshalb sind beispielsweise Neutrino-Teleskope wie ANTARES oder IceCube an verschiedenen Orten der Erde installiert, weil wir so unterschiedliche Ausschnitte des Alls abdecken.
Was versprechen Sie sich davon, die Quellen der Neutrinos zu bestimmen?
Im Grunde sind wir einem der größten Rätsel der Astrophysik auf der Spur, und zwar der Frage, woher hochenergetische kosmische Strahlung stammt. Wir wissen, dass diese Strahlung aus ionisierten Atomkernen und Protonen besteht, die die Erdatmosphäre permanent bombardieren – immerhin etwa 1000 Teilchen pro Quadratmeter und Sekunde, von denen allerdings die wenigsten die Erdoberfläche erreichen. Bisher ist es uns jedoch weder gelungen, die Ursprungsorte dieser Teilchen zu bestimmen, noch gesichert zu sagen, wodurch sie fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden und millionenfach höhere Energien besitzen als im stärksten Teilchenbeschleuniger auf der Erde, dem LHC am CERN. An Neutrinos sind wir deshalb so interessiert, weil wir vermuten, dass sie genau dort entstehen, wo auch die kosmische Strahlung ihren Ursprung hat – in der Umgebung von Schwarzen Löchern und Anhäufungen von Dunkler Materie zum Beispiel. Neutrinos könnten uns also verraten, wo die Dunkle Materie sitzt und woraus sie besteht.
Spielt die Dunkle Materie eine bedeutende Rolle im Universum?
Man muss sich vor Augen führen, dass nach dem Standardmodell der Kosmologie – das auf nur wenigen grundlegenden Annahmen beruht und die verschiedenen Ergebnisse der beobachtenden Astrophysik sehr präzise beschreibt – die gewöhnliche Materie, also Sterne, Planeten oder kaltes Gas, nur etwa vier Prozent der gesamten Energie des Universums ausmacht. Der gigantische Rest sind Dunkle Energie und Dunkle Materie. Beide Formen lassen sich bisher nicht direkt experimentell nachweisen, aber sie liefern schlüssige Erklärungen für beobachtbare Phänomene. Dunkle Energie zum Beispiel dafür, warum das Universum immer schneller expandiert – eine Beobachtung, die vor knapp 20 Jahren die bis dahin gängige Annahme einer gleichmäßigen Ausdehnung über den Haufen geworfen hat. Und Dunkle Materie dafür, dass sichtbare Sterne das Zentrum ihrer Galaxie schneller umkreisen, als das mit der übrigen sichtbaren Materie zu erklären wäre – es muss eine Gravitationskraft geben, die sie dazu zwingt. Rein auf die Energie bezogen könnte man überspitzt sagen, dass sich die allermeisten Entdeckungen der Physik bis heute auf maximal vier Prozent des Universums konzentrierten.
Wie lässt sich der Erkenntnisgewinn über die Bausteine des Universums überhaupt skizzieren? Was wusste man vor einhundert Jahren, und was weiß man heute?
Die Suche nach den kleinsten Teilchen unserer Welt und ihrer Dynamik – also dem, was die Welt wirklich im Innersten zusammenhält – ist eine Aneinanderreihung revolutionärer Entdeckungen, die bis heute in den wenigsten Fällen widerlegt, sondern größtenteils präzisiert wurden. Schon früh nahm man an, dass Atome die kleinsten, unteilbaren Teilchen der Materie sind. Allein deren Dimension – ein Millionstel eines Haardurchmessers – entzieht sich unserer Anschauung. Rutherford hat dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgefunden, dass Atome aus einem positiv geladenen Kern, der nochmals um den Faktor 100.000 kleiner ist und dennoch fast die gesamte Masse des Atoms in sich vereint, und einer negativ geladenen Elektronenhülle besteht. Später entdeckte man, dass der Atomkern sich wiederum aus Protonen und Neutronen zusammensetzt. In den 1930er Jahren glaubte man schließlich, ein vollständiges Bild vom Aufbau der Materie gefunden zu haben und definierte drei Elementarteilchen: Protonen, Neutronen und Elektronen.
Und das gilt heute nicht mehr?
Inzwischen zählen Protonen und Neutronen nicht mehr zu den Elementarteilchen. In den 1960er Jahren wurde die Existenz von Quarks postuliert, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachgewiesen waren und man nichts über ihre Eigenschaften und Wechselwirkungen wusste. Hintergrund war die Entdeckung verschiedener Teilchen, die den bis dahin bekannten Elementarteilchen nicht zugerechnet werden konnten. Das legte die Vermutung nahe, dass es noch kleinere Bausteine gibt, aus denen sich auch Protonen und Neutronen zusammensetzen. 1955 wurden zudem die Neutrinos nachgewiesen, deren Existenz Pauli ein Vierteljahrhundert zuvor postuliert hatte. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt heute sehr präzise, was wir über den Aufbau der Materie, also der gewöhnlichen Materie, wissen. Danach gibt es Quarks, die eigentlichen Materieteilchen, aus denen sich die Protonen zusammensetzen, Leptonen, zu denen Elektronen und Neutrinos gehören, Eichbosonen, die zwischen Quarks und Leptonen ausgetauscht werden und so die elementaren Kräfte vermitteln, und das Higgs-Boson, durch dessen Feldwirkung die übrigen Elementarteilchen überhaupt erst ihre Masse entwickeln.
Die Natur der Dunklen Materie ist eine der fundamentalen ungeklärten Fragen der Physik, die wir schlussendlich zu beantworten hoffen
Mit diesem Standardmodell lässt sich der Aufbau unserer Welt erklären?
Mit dem Standardmodell, das im Wesentlichen auf der Quantenfeldtheorie und Symmetrieannahmen basiert, können wir den fundamentalen Aufbau der gewöhnlichen Materie exakt beschreiben und – im Gegensatz zu den eher heuristischen Modellen der Sechzigerjahre – beinahe beängstigend genaue Vorhersagen treffen. Fast alle Prognosen des Modells über die Existenz von Teilchen und deren Wechselwirkungen wurden in späteren Experimenten bestätigt, zuletzt beispielsweise das Higgs-Teilchen. Dennoch, und darin besteht unsere Herausforderung, lässt das Standardmodell wichtige Aspekte unberücksichtigt – möglicherweise ist das die fundamentalste Erkenntnis der vergangenen Jahrzehnte in der Teilchenphysik. Es enthält keine Teilchenkandidaten, aus denen die Dunkle Materie bestehen könnte. Auch die Phänomene der Gravitation bleiben außen vor, und damit beschreibt das Modell auch keine Dunkle Energie. Bei der Betrachtung extrem hoher Energien, wie sie zum Beispiel beim Urknall auftraten, steht das Standardmodell sogar im Widerspruch zur Allgemeinen Relativitätstheorie. Wir müssen also davon ausgehen, dass es nur ein Aspekt einer noch umfassenderen Theorie ist.
Und dieser Theorie sind Sie auf der Spur?
Wir wollen Hinweise finden, wie es jenseits des Standardmodells weitergehen könnte. Zum Beispiel wäre es wichtig, über die Quellen der Neutrinos sozusagen die Aktionsherde der Dunklen Materie aufzuspüren. Wie bereits erwähnt, ist die Masse dieser Dunklen Materie im gesamten Universum fünfmal so groß wie die der gewöhnlichen, sichtbaren Materie. Sie liefert eine Erklärung für das Spiralmuster der Galaxien und die Strukturbildung im All. Die Natur der Dunklen Materie – ebenso wie die der Dunklen Energie – ist aber eine der fundamentalen ungeklärten Fragen der Physik, die wir schlussendlich zu beantworten hoffen. Dabei helfen uns übrigens nicht nur Neutrinos – wir arbeiten in Forschungskooperationen eng mit Wissenschaftskollegen zusammen, die andere Arten kosmischer Teilchen und Signale untersuchen. Vor wenigen Monaten hat der Wissenschaftsrat 40 Millionen Euro für den Forschungsbau für die Astroteilchenphysik – das ECAP Laboratory – auf dem Erlanger Südgelände genehmigt, worüber wir sehr froh sind. Wir hoffen, in dieser großartigen Umgebung den ein oder anderen Puzzlestein zu finden, um nach und nach die Lücken im großen Bild des Universums zu füllen.
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Dieser Text erschien in unserem Forschungsmagazin friedrich mit dem Titel „Weltbilder“. Lesen Sie im friedrich Nr. 116, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber auch Fremde Welten, Weltpolitik, die Welt von morgen und die Nachwelt sind neben den Weltbildern der Wissenschaft Thema im aktuellen friedrich.
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.