Von der Länderkunde zur digitalen Forschung

Markgraf vor dem Schloss
Markgraf vor dem Schloss (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

FAU-Wissenschaftler untersuchen die Geschichte der Geographie

Die Geographie im Wandel von der reinen Länderkunde hin zur modernen Wissenschaft rund um die Digitalisierung: Im einem neuen Forschungsprojekt untersuchen derzeit Wissenschaftler der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) die Geschichte der Geographie der 1960er und 1970er Jahre. Das Projekt trägt den Titel „Jenseits von Kiel. Wissenschaftsgeschichte der quantitativ-theoretischen Wende in der deutschsprachigen Geographie aus Perspektive historischer Netzwerkanalyse und ungleicher Geographien“. „Während die Phase des Kalten Kriegs in den letzten Jahren ins Zentrum der Wissenschaftsgeschichte gerückt ist, hat sich die Geographie bislang nur sehr wenig mit ihrer Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt“, sagt Dr. Boris Michel vom Lehrstuhl für Geographie an der FAU.

Die systematische Erforschung dieser historischen Entwicklung sei sowohl für das eigene Selbstverständnis von Methoden und Theorie der Geographie als auch im Hinblick auf die aktuelle quantitative Wende und Digitalisierung (Big Data) in der Geographie „dringlich geboten“, betont Dr. Michel. „Aktuelle Probleme in der Geographie, die sich im Rahmen dieser quantitativen Wende abzeichnen, werden weitestgehend ohne Bezüge zur historischen Debatte diskutiert“, kritisiert der Wissenschaftler. In diese Forschungslücke wollen die Erlanger Geographen mit ihrem Forschungsprojekt stoßen.

In ihrem Forschungsprojekt analysiert Dr. Michel und sein Team diese Entwicklungen mit Hilfe historischer Netzwerkanalysen. Diese Methode bietet die Möglichkeit, Verknüpfungen, Verbindungen und Interaktionen von Wissenschaftlern unter anderem in Texten auszuwerten. Dabei untersucht unter anderem Katharina Paulus, die in diesem Rahmen an ihrer Promotion arbeitet, geographische Fachartikel seit den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre. Der Zeitraum wurde wegen dem für die Geographie besonders wichtigen Kieler Geographentag 1969 gewählt, der eine einschneidende Veränderung in der Grundhaltung der Geographie nach sich zog: Studenten forderten dort eine Wissenschaft, die fachtheoretisch begründet, methodisch geleitet, wissenschaftstheoretisch reflexiv und kritisch aufgestellt sein sollte. Außerdem sollte die Geographie gesellschaftlich relevanter werden.

In der Datenbank befinden sich derzeit rund 10.000 Texte, die nun mit Hilfe der historischen Netzwerkanalyse ausgewertet werden. Mit Hilfe der Software können zum Beispiel Verknüpfungen, Interaktionen zwischen Forschern und deren Netzwerke systematisch untersucht werden.  Ausgehend davon wollen die Erlanger Geographen aufzeigen, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen einheitlichen, dominanten Paradigmenwechsel in der Disziplin gab. Vielmehr hätten eine Reihe „lokaler Revolutionen“ stattgefunden, betont Dr. Michel. „Die historische Entwicklung der Geographie ist äußerst widersprüchlich und vielschichtig. Es gibt lokal völlig unterschiedliche Ansätze“, betont Dr. Michel. Man könne keineswegs von „sauberen Paradigmen“, denen die Wissenschaftler nach 1969 und Deutschland gefolgt sind, sprechen. Oft bildeten sich die Widersprüche zwischen den einerseits großen Ideen und anderseits dem lokalen Alltag an den Universitäten. An einigen Universitäten gab es plötzlich „quantitative Revolutionen“, andere hielten noch an der länderkundlichen Geographie fest, wieder andere konzentrierten sich eher auf qualitative Methoden. Die Wissenschaftler arbeiten im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderten Projektes auch eng mit dem Interdisziplinären Zentrum für Digitale Geistes- und Sozialwissenschaften (Izdigital) der FAU zusammen.

Für die wissenschaftliche Geographie, die an der FAU verstärkt integrativ wirken möchte, gibt es angesichts der aktuellen Herausforderungen um Big Data und der Debatte um die Nutzung von Geo-Daten auch kein Zurück. „Das Thema wird derzeit stark auch innerhalb der Geographie stark diskutiert“, betont Dr. Michel. Aus diesem Grund sei die systematische Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte der Geographie so entscheidend, betonte der Forscher.

Kontakt:

Dr. Boris Michel
Tel.: 09131/85-23303
boris.michel@fau.de