(K)ein Bild dieser Welt
Ob auf Papier oder elektronisch: Landkarten sind weniger objektiv als gedacht.
von Roland Knauer
Der elektronische Stadtplan ist übersät mit Supermärkten. Nur steht dem Nutzer der Sinn so gar nicht nach Einkaufen, eigentlich möchte er doch in ein Museum. Dieses wiederum will auf der Karte einfach nicht auftauchen. Vielleicht zeigt das Gerät ja auch sämtliche Ärzte des Ortes an, während man gerade ein Restaurant fürs Abendessen sucht. Wer sich elektronisch orientiert, erlebt solche Situationen häufig. Oft kennt er auch die Hintergründe: Das Programm soll es dem Nutzer einfach machen. Also registriert es aufmerksam seine früheren, vielleicht sogar wiederholten Suchen nach einer Autowerkstatt und zeigt ihm erst mal alle Betriebe dieser Sparte an. Die Software kann ja schließlich nicht ahnen, dass der Sprit bald alle ist und der Autofahrer daher eher eine Tankstelle braucht. Vor allem bei vielseitigen Nutzern führt dieses Personalisieren von Google und Co. nicht nur das eine oder andere Mal in die Irre. Es macht auch deutlich, dass die gezeigte Straßenkarte weniger objektiv ist, als so mancher vor dem Bildschirm vermutet. Böse Zungen lästern da schon einmal, dass Google die Welt eben wie eine große Shopping Mall präsentiert.
Auch Landkarten auf Papier bilden nicht die reale Welt ab, sondern zeigen eine spezifische Perspektive.
Neu ist dieser Mangel an Objektivität allerdings nicht. „Auch Landkarten auf Papier bilden nicht die reale Welt ab, sondern zeigen jeweils eine spezifische Perspektive, die einige Aspekte weglässt, andere dagegen betont“, erklärt Professor Georg Glasze vom FAU-Institut für Geographie. Dahinter steckt oft genug kein böser Wille, sondern eher sachliche Zwänge. So zeigt ein guter Stadtplan Straßen und Plätze vielleicht zehntausend Mal kleiner als das Original. Ein hundert Meter langer Wohnblock schrumpft auf der Karte also auf einen Zentimeter zusammen. Jede einzelne der fünf Haustüren lässt sich auf diesem kurzen Stück kaum darstellen. Selbst wenn der Kartograph alle Eingänge irgendwie auf das Papier quetscht, wird der Plan einer Millionenstadt durch Zehntausende von Haustüren nicht gerade übersichtlich.
Also muss der Hersteller nicht nur ein paar, sondern sehr viele Details weglassen. Was aber kann auf der Karte entfallen? Und was sollte vielleicht besonders hervorgehoben werden? „Solche Fragen beantwortet ein Kartograph gern mit Blick auf seine Kunden“, erklärt Georg Glasze, der unter anderem den Einfluss politischer und wirtschaftlicher Interessen auf die Kartographie untersucht. Einen Stadtplan von Erlangen kaufen zum Beispiel eher Touristen oder Studenten aus einer anderen Region als Alteingesessene. Reisende wiederum interessieren sich meist mehr für Sehenswürdigkeiten als für einen Änderungsschneider. Also lässt der Hersteller den Handwerker weg und stellt die alte Kirche ein wenig heraus. Das ist zwar nicht allzu objektiv, aber für den Nutzer immerhin praktisch. Es sei denn, der Student möchte gerade keinen Gottesdienst besuchen, sondern seine Hose ändern lassen.
Die Google-Vorlieben für Shopping Malls gibt es also unter anderem Vorzeichen auch bei klassischen Landkarten. Georg Glasze findet in seiner Forschung dann auch viele weitere Beispiele, die zeigen, wie das Umfeld Landkarten prägt. So gibt es auf amtlichen deutschen Karten zwar unterschiedliche Symbole für Kathedralen, Kirchen und kleine Kapellen. Für Moscheen, Sikh-Tempel, Synagogen und weitere Gotteshäuser nicht christlicher Religionen aber fehlen solche Zeichen. Mehr noch: Obwohl Juden viele Jahrhunderte lang in etlichen Ländern Europas eine wichtige Rolle spielten und mancherorts Synagogen das Stadtbild ähnlich wie christliche Kirchen prägten, findet sich auf alten Karten allenfalls die Abkürzung „Syn“ für eine Synagoge. Diese Situation ist bei Moscheen heute ähnlich: Selbst wenn sie gut sichtbar sind und wie in Mannheim das Stadtbild prägen, fehlen sie auf amtlichen Karten völlig.
Demokratische Karten
Neben den amtlichen Karten liefern im Zeitalter der Digitalisierung aber auch kommerzielle Unternehmen wie Google oder freiwillige Initiativen wie das OpenStreetMap-Projekt Karten – und krempeln damit die Kartographie gründlich um. Manchmal als Wikipedia der Kartographie bezeichnet, soll OpenStreetMap den Markt der Landkarten demokratisieren. Aber auch diese Vorstellung greift zu kurz. Als Georg Glasze und sein Mitarbeiter Christian Bittner sich die Karten von Jerusalem anschauten, stellten sie verblüfft fest, dass Viertel mit überwiegend arabischen oder jüdisch-orthodoxen Bewohnern erheblich weniger Details als die weniger von Religionen geprägten Stadtteile zeigten. Ein Blick auf die freiwilligen Mitarbeiter dieser Karten erklärt diesen Unterschied: Handelt es sich doch oft um Männer, die ein Faible für Technik haben, an Religion aber nicht übermäßig interessiert sind. Diese wohnen nur selten in einem arabischen oder jüdisch-orthodoxen Viertel. Details für die OpenStreetsMap aber tragen sie meist aus ihrer Umgebung zusammen. Kein Wunder also, wenn bei diesem Projekt die religiös geprägten Stadtteile stiefmütterlich behandelt werden.
Auch in Deutschland sind es eher technisch orientierte Männer als beispielsweise Imame, die in den Städten die Details für solche Karten sammeln. Moscheen aber finden oft in Fabriken Unterschlupf, die einst in Hinterhöfen florierten, aber längst stillgelegt sind. Solche versteckten Gotteshäuser erkennen daher die Freiwilligen von OpenStreetMap oftmals nicht. Auch wenn es seit einigen Jahren ein eigenes Symbol für Moscheen gibt, bleiben islamische Gotteshäuser auf deutschen Karten so Mangelware. Und selbst wenn sie entdeckt werden, wissen die Laienkartographen oft nicht, was sie in ihre Karte eintragen sollen: Orientieren sie sich an der Funktion und notieren einen Halbmond als Symbol für eine Moschee? Oder sollen sie vielleicht das Symbol für eine Industrieruine und damit die äußere Hülle zeigen?
In Großbritannien gibt es Kirchen, die längst entweiht sind und anderweitig genutzt werden.
Nicht nur deutsche Kartographen stehen vor solchen Problemen. „In Großbritannien gibt es mittlerweile etliche einstige Kirchen, die längst entweiht sind und anderweitig als Gemeindezentrum oder auch als Herberge genutzt werden“, erzählt Georg Glasze von seinen Forschungsaufenthalten auf den Britischen Inseln. Soll dort also das Kirchen-Symbol für das Gebäude stehen? Oder das Zeichen für ein „Bed and Breakfast“ oder auch ein Gemeindezentrum für die Funktion? Noch viel schwieriger wird die Situation, wenn Politiker und Militärs sich einmischen. In den Konfliktgebieten der Welt findet man in solchen Fällen oft genug nicht einmal mehr gemeinsame Namen für dasselbe Gebiet. So wird die von Israel besetzte Region westlich des Jordans in israelischen Karten vielfach mit den biblischen Regionsbezeichnungen Samaria und Judäa bezeichnet – internationale Karten sprechen hingegen von der Westbank bzw. dem Westjordanland. Und wie zeichnet man in die Karten die Grenze der Halbinsel Krim ein, die von Russland regiert wird, aber völkerrechtlich von den meisten Staaten weiter zur Ukraine gerechnet wird? Mit einer gestrichelten Linie für eine Regionalgrenze und damit zur Ukraine gehörend? Oder mit einer durchgezogenen Linie für eine internationale Grenze und damit zu Russland gehörend?
Egal wie die Entscheidung auch fällt, eines wird gleich bleiben: Auf beiden Seiten der gestrichelt oder durchgezogen dargestellten Grenze zur Krim-Halbinsel werden die elektronischen Karten von Google und Co. dem Fast-Food-Freak eine Reihe von Schnellimbiss-Läden zeigen. Oder sollte dort doch eher Fast Food stehen? Oder das Symbol der einschlägigen McDonald’s-Kette? Vermutlich wird sich Letzteres durchsetzen. Schließlich haben Google und Co. durchaus kommerzielle Interessen. Diese wiederum nimmt Georg Glasze unter die Lupe. Und das auf allen Seiten diverser Grenzen, nicht nur im Nahen Osten und am Schwarzen Meer.
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