Nachgefragt: Gesellschaft im Umbruch

Prof. Dr. Benjamin Jörissen
Prof. Dr. Benjamin Jörissen ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur, ästhetische Bildung und Erziehung an der FAU. (Bild: FAU/Georg Pöhlein)

Die Bedeutung kultureller Bildung im Zeitalter der Digitalisierung

Unsere Gesellschaft ist aktuell enormen Veränderungen unterworfen. Welche Auswirkungen haben diese auf kulturelle Bildung? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, veranstaltet der Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur, ästhetische Bildung und Erziehung der FAU die internationale Winter School „Spectra of Transformation“, die vom 20. bis 24. Februar stattfindet. Wir haben mit Lehrstuhlinhaber Prof. Benjamin Jörissen, Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung an der FAU, über ästhetische und kulturelle Bildung und ihre Bedeutung  in einer durch die Digitalisierung im Umbruch befindlichen Gesellschaft gesprochen.

Was ist Arts, Aesthetics and Cultural Education? Was sind die Inhalte des Faches?

Was in der deutschsprachigen pädagogischen Tradition als „Kulturelle Bildung“ wohlbekannt ist, hat in dieser Form kein internationales Pendant. Der internationale Diskurs firmiert  in der Regel unter der engeren Bezeichnung „arts education“. Ich verwende daher eine umfassendere Bezeichnung für das Gegenstandsfeld. Dazu gehören insbesondere die Aspekte der ästhetischen Bildung, also zum Beispiel Bildung der Sinne, Bildung von Wahrnehmungsweisen und –fähigkeiten und der kulturellen Bildung im Sinne eines Nachdenkens über tradierte kulturelle Formen, wie sie in, aber auch außerhalb der Künste gegenwärtig sind, sowie ihren Implikationen und ihrer Bedeutung im Hinblick auf Fragen der Selbstbestimmung.

Thema der Winterschool sind die Beeinflussungen ihres Faches durch die technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Wie sieht diese Beeinflussung zum Beispiel durch die kommende Digitalisierung aus?

Konzepte von „Bildung“ und „Kultur“ entstehen nicht im luftleeren Raum. Vielmehr sind schon diese Begriffe als solche Ausdruck einer Selbstreflexion von Kultur, die dann eben  zum Beispiel einen Begriff für sich selbst findet. Daher sind unsere Vorstellungen, und entsprechend auch unsere wissenschaftlichen Konzeptionen von „Bildung“ und „Kultur“ – erst recht von „kultureller Bildung“- in hohem Maße von gesellschaftlichen Zuständen und Dynamiken geprägt. Ändern sich gesellschaftliche Bedingungen, so ändern sich auch die Bedingungen für solche Begrifflichkeiten. Digitalisierung beispielsweise ist ein Prozess, der tief in die Selbstverhältnisse von Menschen eingreift, indem er sowohl Subjektkonfigurationen, Identität, Selbstbild, Körperbild, Gedächtnispraktiken und so weiter, wie auch soziale Konfigurationen – von der Gemeinschaft zum hochindividualisierten Netzwerk – verändert. Wenn das klassisch-moderne Subjekt in der Tradition europäischen Aufklärungsdenkens durch mediale und digitale Umwandlungsprozesse zu einem vernetzten, technologisierten und hybriden Subjekt wird – wie es etwa am „Future of Humanity Institute“ in Oxford verhandelt wird –, so muss unser Verständnis von „Bildung“ darauf reagieren. Es muss  dann die Ebene der Netzwerke, der Gedächtnistechnologien, der Filtersysteme und der Algorithmen mit einbeziehen. „Bildung“ selbst verändert sich also mit den historisch Transformationen von Selbstverhältnissen – das war im Grunde immer schon so. Deshalb müssen wir also immer wieder darauf achten, dass unsere etablierten Begriffe, die sich aufgrund ihrer Verankerung in tradierten Theoriegefügen immer relativ langsam verändern, gerade vor dem Hintergrund sehr dynamischer und disruptiver Veränderungen diesen neuen Bedingungen und Wirklichkeiten noch gerecht werden.

Welche Bedeutung hat ästhetische und kulturelle Bildung für eine Gesellschaft?

Generell geht es zunächst um Aspekte wie gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe, persönliche Entfaltung, um die Schulung der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten. Das entspricht der klassischen Perspektive auf ästhetische und kulturelle Bildung. Es geht jedoch noch um wesentlich mehr. Dazu zwei Beispiele: Das erste geht von der Frage der Selbstbestimmungsfähigkeit aus – vom Versprechen der menschlichen Bildsamkeit unter Bedingungen komplexer (post-) moderner Gesellschaften. Ästhetische, kulturelle und auch auf Künste bezogene Bildungsprozesse gehen über bloße Teilhabe weit hinaus. Sie orientieren und positionieren uns. Positionieren im Hinblick auf Lebenswelten, auch politische Welten und ökonomische Welten, die ganz wesentlich auf ästhetischen Inszenierungsprozessen beruhen.  Diese reichen von der Körperinszenierung über mediale Politikinszenierung, von der ästhetisierten Warenwelt bis zur Ökonomisierung von Kreativität. Ästhetische Bildung ist hier wesentliche Voraussetzung der kritischen, subversiven oder anderweitig nicht gesellschaftlichen Normen entsprechenden Positionierung. Also des „Durch-Schauens“ der inszenierten Arrangements, aber auch eines veränderten und verändernden Umgangs. Zweites Beispiel, wiederum auf Digitalisierung bezogen: Die Komplexität der derzeitigen digitalen vielfältigen Umbrüche ist derart hoch, dass klassische, auf kognitive Fertigkeiten abzielende pädagogische Mittel – Medienkompetenz, aber auch das Erlernen von Programmiersprachen – dem allein nicht mehr gerecht werden können. Wenn Digitalisierung Lebenswelten durch neue Ästhetisierungsformen und auch neue Formen des emotionalen Managements, zum Beispiel über Facebook-Filteralgorithmen umformen, wenn ganze Subkulturen neu entstehen, wie es vom Silicon Valley bis hin zu den unzähligen Hacker-, Gaming-, Streaming-Kulturen der Fall ist, dann können diese Transformationen nur mit Mitteln der ästhetischen und kulturellen Bildung adäquat aufgefasst werden. Man wundert sich hierzulande beispielsweise über das relativ geringe Interesse der Jugendlichen am Fach Informatik,  versteht dabei jedoch nicht, dass dessen Ingenieursperspektive auf das Digitale erstens nur einen Aspekt, und zweitens einen nicht unbedingt primären darstellt. Im Silicon Valley geht es um Stil, Design, Visionen und Utopien. Innerhalb dieses Rahmens geht es dann um geniale Software- und Hardwareentwicklung. Selbst für die immer stark in den Vordergrund gehobenen MINT-Fächer also ist ästhetische Bildung erheblich bedeutsamer, als gemeinhin wahrgenommen wird, weil es auch hier um neue Ästhetiken, Kulturen und Lebensentwürfe geht.

Informationen:

Prof. Dr. Benjamin Jörissen
Tel. 09131/85-22001
bejamin.joerissen@fau.de