Nachgefragt: Der türkische Nationalismus damals und heute

Dr. Hüseyin Cicek vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (Bild: Denise Kopf)
Dr. Hüseyin Cicek vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (Bild: Denise Kopf)

Nationalistische Ideen haben wieder Konjunktur. Bekanntermaßen sind diese aber keine Erfindung der Gegenwart. Im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden, finden sie vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert große Verbreitung. So entwickelte Ismail Bey Gaspirali, ein krimtartarischer Intellektueller und Verleger, im späten 19. Jahrhundert seine Idee eines türkischen Nationalismus für das Osmanische Reich, die teilweise auch heute wieder im gesellschaftlichen Diskurs in der Türkei Gehör finden. Wir haben mit Dr. Hüseyin I. Çiçek vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) der FAU über Parallelen und Unterschiede von damals und heute gesprochen.

Ismail Bey Gaspirali gehört zu den Gründervätern des türkischen Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Worin unterscheidet sich der damalige vom heutigen Nationalismus in der Türkei?

Gaspirali und einige seiner Zeitgenossen versuchten vor allem, ein türkisches Bewusstsein zu erzeugen. Ihrer Meinung nach mussten oder sollten die Turkvölker vom Balkan bis zum Xinjiang miteinander vereint werden, sofern ein aufrichtiges Interesse darin bestand, das Osmanische Reich vor dem Zerfall zu schützen. In der heutigen Türkei werden solche nationalistischen Großraumtheorien nur von wenigen Nationalisten ernst genommen. Vielmehr konzentriert sich der heutige türkische Nationalismus auf das Territorium der Türkei. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Gründer der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, nationalistische Ideologien, die nicht mit seinen Ansichten vereinbar waren, erfolgreich bekämpfen konnte.

Welche Gedanken Gaspiralis finden wir im heutigen gesellschaftlichen Diskurs in der Türkei?

Gegenwärtig, vor dem Hintergrund der vielen Herausforderungen wie dem Syrienkrieg, der PKK, dem jihadistischen Terror und den Spannungen zwischen Ankara und NATO beziehungsweise den USA, sind nationalistische Diskurse hoch im Kurs. Die Türkei, vor allem die Regierungspartei unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan, ist der Meinung, dass die europäischen oder westlichen Koalitionspartner die Interessen der Türkei zu wenig ernstnehmen würden. Sie beleben sowohl türkisch nationalistische als auch islamische Großraumtheorien und möchten dadurch die Mehrheit der türkischen Bürger auf ihre Parteilinie bringen. Beispielsweise wird das Osmanische Reich immer wieder politisch instrumentalisiert und gleichzeitig auf die türkische Identität hingewiesen.

Der Vorwurf der Hetze und Konspiration vor allem der westlichen Medien gegenüber den Türken findet sich auch in Bey Gaspiralis Schriften. Welche Parallelen und Unterschiede gibt es zu heutigen Vorwürfen gegenüber den Medien?

Ein wichtiger Unterschied ist: Gaspirali wurde in eine Zeit geboren, in welcher Russland und die europäischen Großmächte ein Interesse am Zerfall des Osmanischen Reiches hatten. Historiker haben immer wieder aufzeigen können, dass die territorialen Verluste des Osmanischen Reiches lebensbedrohliche Folgen für die eroberten Bürger des Osmanischen Reiches hatten. Einige Wissenschaftler behaupten, dass zwischen 1818 bis 1918 mehr als 20 Millionen osmanischer Muslime aufgrund von gezwungener Migration, Gewalt etc. ums Legen gekommen sind. Gaspiralis Kritik war somit ein Versuch, die Ereignisse aufzufangen und mitzuteilen, obwohl er selbstverständlich, ähnlich den Medien, die er kritisierte, nicht objektiv berichtete.

Ein weiterer ist: Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich unter anderem darin, dass die Türkei als Bündnispartner der NATO oder des Westens nicht zur Zielscheibe des Westens geworden ist. Im Gegenteil, die Türkei wird von den USA und der NATO als wichtiger Bündnispartner gesehen. Die heutigen Konspirationsvorwürfe haben ihren Ursprung vor allem darin, dass sich USA, NATO, aber auch Deutschland, entschieden haben, die kurdischen Kämpfer der YPG in Syrien im Kampf gegen die jihadistische Gefahr, vor allem den IS, zu unterstützen. Derzeit ist es nicht absehbar, wie sich die politische Situation in Syrien entwickeln wird. Es ist durchaus möglich, dass die syrischen Kurden in der Zukunft eine stärkere Rolle in Syrien spielen werden und somit die geopolitischen Interessen der Türkei in der Region gefährden könnten.

Parallelen sehe ich vor allem in der Berichterstattung. So stellen gewisse Medien die Türkei als „Spielball der Mächte“ dar, die Vorgehensweise der Regierung wird als eine notwendige und angebrachte politische Maßnahme gesehen und bewertet. Auch für Gaspirali war die osmanische Politik weniger eine Aktion als eine Reaktion auf äußere Feinde.

Dr. Hüseyin I. Çiçek hat die Schriften Gaspiralis jüngst in einem Aufsatz untersucht. Der Aufsatz „Unentdeckte Dichotomien in den Schriften Ismail Bey Gaspiralis“ ist als Open-Access-Publikation der Universität Linz unter folgendem Link einsehbar: http://epub.jku.at/urn:nbn:at:at-ubl:3-44

Weitere Informationen:

Dr. Hüseyin I. Çiçek
Tel: 09131 85-26398
hueseyin.cicek@fau.de