Wahr ist, was ich sehe. Vielleicht.
Sinne können getäuscht werden, das weiß jeder. Doch wie können wir dann wissen, was wirklich ist und was nicht?
von Jan Weyand
Wer nicht dabei war, kann auch nicht mitreden. Man weiß, wie es war, weil man es erlebt hat. Wir sehen zum Beispiel ein Auto und wissen, wie es sich anfühlen wird, wenn wir es anfassen. Kurz: Was wir im Alltag mit unseren Sinnen erfahren, speichern wir als objektiv ab.
Umgekehrt hat sich Wissen in der Praxis zu bewähren, und das Wissen, das sich nicht bewährt, gilt als falsch. Allerdings können unsere Sinne täuschen. Wir alle wissen, dass sich die Sonne nicht um die Erde dreht, auch wenn wir täglich aufs Neue diesen Eindruck gewinnen. Dieses Problem der Täuschung versucht man nicht selten durch kontrollierte und genaue Beobachtung der Wirklichkeit in den Griff zu bekommen.
Nicht so in der Denkschule des Konstruktivismus. Denn aus seiner Perspektive gibt es diese von uns unabhängige Wirklichkeit nicht. Die Theorie geht davon aus, dass Wirklichkeit grundsätzlich nur aus der Perspektive eines Beobachters zugänglich ist und das Bild dieser Wirklichkeit durch diese Perspektive bestimmt wird. Sinneseindrücke sind keine bloßen Abbilder der Wirklichkeit, sondern sie schaffen oder konstruieren diese Wirklichkeit. Nimmt man diese Überlegung ernst, steht der Verweis auf die sinnliche Erfahrung von „Tatsachen“ gerade nicht für deren Objektivität.
Sinnlicher Duft oder aufdringliches Parfüm?
Zunächst sind die „Tatsachen“ Produkt unserer spezifischen Ausstattung der Sinnesorgane. So nehmen die meisten von uns ein bestimmtes, für den Menschen charakteristisches Farbspektrum wahr, hören in einem für den Menschen charakteristischen Frequenzbereich. Diese gattungsspezifischen physiologischen Grundlagen unserer Sinneswahrnehmung sind individuell unterschiedlich ausgeprägt. So lässt sich beispielsweise für den Geruchssinn zeigen, dass Menschen nicht dasselbe riechen – was der eine als sinnlichen Duft wahrnimmt, ist für den anderen ein aufdringliches Parfüm. Hinzu kommen kulturelles Wissen und Bildung, die dazu führen, dass zwei Menschen unter vergleichbaren Bedingungen nicht die gleiche sinnliche Erfahrung machen.
Jeder, der schon einmal geröntgt wurde, weiß, dass ein Arzt auf dem Röntgenbild etwas anderes sieht als er selbst. Oder das Beispiel Hören: Wer nicht weiß, wie eine Fuge klingt, der hört sie auch nicht.
Wenn die „Tatsachen“ unserer sinnliche Erfahrung erstens nicht unabhängig von kulturellen Mustern und zweitens nicht unabhängig von unserer Bildung sind, stellt sich die Frage: Was ist denn nun wirklich? Hat jede und jeder eine eigene Wirklichkeit? In einer konstruktivistischen Perspektive wird man diese Frage zugleich bejahen und verneinen. Insofern die Welt von physiologisch, psychologisch und kulturell unterschiedlichen Beobachtern sinnlich erfahren wird, ist deren Wirklichkeit individuell unterschiedlich.
Doch das ändert sich, sobald wir uns anderen mitteilen, zum Beispiel miteinander sprechen. Dabei verwandeln wir den Sinneseindruck in einen symbolischen Ausdruck, in ein Zeichen. So sehen in einem Kippbild unterschiedliche Personen unterschiedliche Bilder, die einen etwa eine alte und die anderen eine junge Frau. Wenn sie aber darüber sprechen, tauschen sie sich in einem gemeinsamen Symbolsystem über ihre unterschiedliche Wahrnehmung aus.
Dass wir uns mit anderen über Sinneseindrücke austauschen können, basiert darauf, dass Symbolsysteme, in denen wir uns verständigen, wie beispielsweise die Sprache, nicht individuell sind, sondern von vielen geteilt werden. Aber gerade weil wir auf Symbole angewiesen sind, um unser sinnliches Erleben zu artikulieren, hängen die Symbolsysteme von der jeweiligen Kultur ab, in der sie verwendet werden.
Wenn wir den konstruktivistischen Grundgedanken akzeptieren, dass unsere Weltdeutungen mit Begriffen und Sinnesdaten operieren, die das Produkt unserer Kulturgeschichte sind, müssen wir uns davon verabschieden, dass es einen Prüfstein gültigen Wissens gibt, der unabhängig vom Beobachter ist. Doch daraus folgt nicht, dass wir auch den Begriff eines objektiven Wissens aufgeben müssen. Nur dürfen wir diese Objektivität nicht als allgemeingültig, notwendig und unabhängig von der Kultur betrachten. Wir deuten Welt immer vor dem Hintergrund biografischer und kultureller Erfahrung. Aus dieser Relativität der Deutung auf uns selbst kommen wir nicht heraus. Wir können uns aber darüber verständigen.
Neugierig auf mehr?
Dieser Text erschien zuerst in unserem Forschungsmagazin friedrich zum Thema Sinne. Lesen Sie außerdem im friedrich Nr. 115, warum man sich vielleicht gar nicht so sehr auf seine Sinne verlassen sollte, wie Düfte helfen, psychische Krankheiten zu heilen und wie Maschinen hören lernen.
Weitere Beiträge aus dem Magazin finden Sie unter dem Stichwort „friedrich“.